www.Crossover-agm.de
Marillion   08.12.2007   Köln, Live Music Hall
von ta

Eine Band von Götterhand, das einzige Deutschlandkonzert der "Snowhere Else"-Tour - wenig überraschend ist die Live Music Hall proppevoll, ausverkauft und im Auditorium herrscht schon allerbeste Stimmung, als die Band noch gar nicht auf der Bühne steht. 20.00 Uhr, mit einer halben Stunde Verspätung, gehen aber endlich schlagartig alle Lichter aus und die Synthieflächen von "Bridge", dem Opener des 94er Musiktitanen "Brave", in tosendem Jubel unter. Bei den ersten Rothery-Flageoletts des zartgöttlichen "Living With The Big Lie" bin ich dann bereits entrückt, nur noch emotionale Masse und nicht mehr in der Lage, bewusst zu denken. Gottlob habe ich prophylaktisch ein spezielles Marillion-Transformationsgerät mit Protokollfunktion an die Hirnrinde angeschlossen, das die Neuronenfeuer in meinem Kopf in Gefühle übersetzt und die Gefühle auf Songs zurückführt. Also: "Runaway" und das Triple "Wave/Mad/The Opium Den" aus dem Longtrack "Goodbye To All That" lassen schon den Verdacht keimen, dass heute die ganze "Brave"-Scheibe zu hören sein wird, doch just wird einem das smoothe Leitthema des "Anoraknophobia"-Diamanten "Fruit Of The Wild Rose" vorgeworfen. Gute Wahl! Vorne steht Steve Hogarth, h, und leidet während der Songs, lacht und scherzt davor und danach. Dieser Mann ist eine musikalische Goldgrube, aber wem erzähle ich das? "Out Of This World", eins der traurigsten Musikstücke, die es gibt auf dieser Welt, beamt jeden weg, der noch bei klarem Verstand war und für einen kurzen Moment feuern meine Neuronen den Befehl "Jetzt abhauen, besser kann es nicht mehr werden!".
Da kommt das neue, noch unveröffentlichte Nümmerchen "Real Tears For Sale" gerade recht: Poppig, mit ein bisschen einfältigem Herzschmerz drin - das "Don't Hurt Yourself" von morgen sozusagen, zum Nebenbeimitnicken, Schmunzeln und die perfekte Vorbereitung auf das Gefühlsgewitter, welches hernach auf die Menge einprasselt: "Somewhere Else" ist live ein Gigant, viel ergreifender noch als auf dem gleichnamigen Album. Gitarrenflimmern von irgendwo anders, everyone I know is somewhere else, langes Tosen danach im Publikum, "I have a wish" brüllt ein Kerl irgendwann vorne rechts in eine Jubelpause und will "A Voice From The Past" hören. Leider hat Mark Kelly die erforderlichen Sounds nicht in seine Synthieburg einprogrammiert, aber die Gunst der Stunde nutzend kreischt linkerhand jemand nach "Seasons End" und bekommt den schmerzgetünchten Übersong auch prompt in einer zwölfminütigen Version geboten, die so wunderbar ist, dass jedes Wort darüber zuviel ist. Als ich wieder zu Bewusstsein komme, ist die Band von der Bühne verschwunden. Richtig, "We will play two sets tonight" hatte h zu Beginn angekündigt. 10 Minuten Pause. Die Kölner brodeln, jeder genießt den Abend in vollen Zügen.
"Hooks In You" bildet den Auftakt für den zweiten, rockigen Teil des Abends. h singt den Song besser als 1989 auf "Seasons End", der Mann ist eine musikalische ... ach, hatten wir schon. Endlich kann sich auch Pete Trewavas austoben und lässt gleich eine ganze Staffel Bewegungsmelder aufheulen. Dafür leistet er sich, wie auch Ian Mosley auf seinem Kit, im nachfolgenden Debilensong "Most Toys" ein paar nette Verspieler. Schwamm drüber, heute geht alles und bei dem seltsamen Track stört es eh nicht. Zur zweiten Hälfte von "The Other Half" drohe ich wieder zu entschweben, doch "Cannibal Surf Babe" zurrt die Zügel gerade noch mal fest. Abgefahrener Song, wie man weiß, und das Kindische daran ist Programm. Spielend werfen sich Hogarth und Trewavas Gesangs- und Sprüchebälle zu, ich gebe zu: ich habe Spaß daran, zuzuschauen und -zuhören, bin für eine Weile ganz da. Als aus dem Publikum vorhin jemand fragte "Who wrote this song?" (geile Frage) und Hogarth trocken mit "Kylie Minogue" antwortet, musste ich sogar auflachen, zusammen mit 1500 Anderen.
Beim letzten Viertel des regulären Sets ist Ausdauer gefragt: "This Town", "The Rakes Progress" und "100 Nights" von "Holidays In Eden" sowie das Epos "This Strange Engine" vom gleichnamigen Album kommen in einem 25minütigen Block direkt hintereinander, ohne nennenswerte Pause oder gar Ansage dazwischen. Da wird es nach hinten hin dann doch wieder sphärisch und dass die Songs der genannten beiden Scheiben live wesentlich mehr taugen als auf Platte, ist ja schon lange kein Geheimnis mehr. Besonders "100 Nights", das ich früher genau wie den größeren Teil des Rests der Platte wirklich übel fand, holt ungeahnte Stimmungsvöllepunkte ein. In "This Strange Engine" baut h datums- und tournamengemäß Weihnachtsmessages en masse ein: "It's birthday of Christ", "Love each other" etc. Groß ist der Jubel, laut sind die Entsetzensschreie, als die Band nach einem letzten Bubengrinsen des Sängers die Bühne verlässt. Muss das? Kann das?? Darf das??? Gottlob, Marillionlob nicht. Die englische Mannschaft der Albatros Emotionicus kehrt grinsend zurück und "Quartz" groovt und funkt nach kurzem Palaver auf der Bühne vom ersten bis zum letzten Ton alles in Grund und Boden. Den krönenden, endgültigen Abschluss des ernsten Teils liefert der seit der "Marbles"-Tour obligatorische Longtrack "Neverland", der im direkten Vergleich zu "Strange Engine" noch mal deutlich machte, was die Prog Rocker Marillion von den Art Rockern unterscheidet, wenn die Songlängen dieselben bleiben: Reduziertere Einzelparts, flüssigere Arrangements, tiefere Klangfarben, magic, this is magic. Im endlosen Strom der Sphärenharmonie nehme ich noch wahr, dass Kelly im aufblasbaren Santa Claus-Kostüm auf der Bühne vor einem leuchtenden Plastiktannenbaum Polka tanzt und h den Christmessenklassiker "Let It Snow" durch einen weißen Rauschebart zum Besten gibt, während von der Decke künstlicher Schnee fällt. Das ist dann 2 1/2 Stunden nach Konzertbeginn.

Setlist:
Bridge
Living With The Big Lie
Runaway
Wave / Mad / The Opium Den
Fruit Of The Wild Rose
Out Of This World
Real Tears For Sale
Somewhere Else
Seasons End
----------
Hooks In You
Most Toys
The Other Half
Cannibal Surf Babe
This Town
The Rakes Progress
100 Nights
This Strange Engine
----------
Quartz
Neverland
Let It Snow



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver