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Junge Deutsche Philharmonie   19.09.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Nach dem plötzlichen Interessenausbruch bei Gustavo Dudamel und seinen Venezolanern kehrt bei der Jungen Deutschen Philharmonie wieder jugendorchestertechnische Normalität im Gewandhaus ein: Da holt man qualitativ hochwertige Musiker heran, noch dazu unter Manfred Honeck, der vor Jahren selbst als Co-Chef am Pult des MDR Sinfonieorchesters gestanden hatte, in Leipzig also kein Unbekannter mehr ist, fährt gar noch eine Fast-Uraufführung eines "hippen" Komponisten auf - und das Haus ist trotzdem nur zu einem Drittel gefüllt. Das szenarische Lamento aus dem Review des Chicago Youth Symphony Orchestras soll hier nicht wiederholt, aber doch die Frage gestellt werden, wieso man als Publikum so leichtfertig mit seiner eigenen musikalischen Zukunft umgeht, wenn einem die Lokalmedien mit nicht zu übersehender Berichterstattung mal nicht das Gegenteil unabdingbar erscheinen lassen. Aber genug der strukturellen Worte, hinein ins Geschehen, und das sieht in der ersten Konzerthälfte die erwähnte Fast-Uraufführung des Violinkonzertes eines Komponisten vor, der genau ein Jahr älter ist als das Orchester selbst: Jörg Widmann, nicht nur Klarinettist, sondern auch vielbeschäftigter Tonsetzer, bei dem immerhin auch Pierre Boulez ein Orchesterstück bestellt hat, das er mit den Wiener Philharmonikern aus der Taufe hebt. Auch das Violinkonzert ist eine "Bestellung" der Jungen Deutschen Philharmonie, die es auf ihrer Septembertour uraufführt; das Leipzig-Konzert stellt die Drittaufführung des Werkes dar. Strukturell auffällig sind drei Dinge. Erstens gönnt Widmann seinem Soloviolinisten im Prinzip keine Pause, feilt also auch die Zuwerfstruktur von Themen zwischen Orchester und Solist keineswegs so aus, wie es meinetwegen Mendelssohn oder viele der anderen großen Komponisten vergangener Jahrhunderte getan haben, was deutliche Rezeptionsfolgen hat: Ohne Partitur ist man beim erstmaligen Hören kaum in der Lage, solche Themenwanderungen und -verarbeitungen überhaupt zu erkennen, da sich, wie bei Neutönern leider allgemein üblich, etwaige Themen durch eine ausgesprochene Amelodiosität und Arhythmizität dem Erkenntnisprozeß entziehen. Zweitens ist das Konzert nicht in Sätze unterteilt, sondern findet lediglich eine zentrale Zäsur in Form der besten Passage, die das komplette Werk zu bieten hat: Wie Widmann hier Spannung aufbauen, ein schneidendes Verklingen der Solovioline nach sieben Sekunden mit einem Saitenanriß aufwirbeln und durch die Holzbläser den angerissenen Ton im Pianissimo fortspinnen läßt, das ist ganz große Arrangierkunst, der sich sowohl Soloviolinist Christian Tetzlaff (in der laufenden Spielzeit artist in residence beim Gewandhaus) als auch Dirigent und Orchester meisterlich gewachsen zeigen. Drittens ist das Konzert für Widmann-Verhältnisse vom instrumentalen Unterbau her ungewohnt ruhig ausgefallen, wirft gerade dadurch aber wieder das Problemfeld auf, wie ausgedehnte angedunkelte Adagioflächen des Orchesters mit Hochgeschwindigkeitsläufen auf den höheren Saiten der Solovioline zusammenpassen sollen. Die Antwort ist leicht: Vom einmaligen Höreindruck her passen sie nicht (den mehrmaligen kann der Rezensent bisher nicht beurteilen), stehen sich phasenweise fast antagonistisch gegenüber (die Death Metaller der Leserschaft erinnern sich an die australische Band Disembowelment, der Rezensent Tim Hofmann vor vielen Jahren im RockHard ein ähnliches Vorgehen bescheinigte), was der Solovioline den Status zusammenhanglosen Gedudels einbringt, der wie erwähnt (noch?) nicht durch die Erkenntnis einer thematischen Struktur aufgehoben werden kann. Die Dominanz der hohen Violinentöne (die in der Extremform wie eine Kreuzung aus Ondes Martenot und Micky Maus klingen) kontrastiert übrigens auffällig mit dem Text im Programmheft, nach dem der Komponist gerade den Zauber der tiefen G-Saite entdeckt habe - wenn das stimmt, wie klangen Violinen dann in seinem früheren Werk? (Immerhin hat er mit seiner Schwester Carolin, mittlerweile Violinprofessorin an der Leipziger Musikhochschule, ein "Erprobungsobjekt" in der eigenen Familie.) So kommen denn (abgesehen vom erwähnten Zentralbreak und dem ebenfalls äußerst gekonnt verklingenden Schluß) die meisten Erleuchtungen, die sich schon beim ersten Hören zeigen, aus dem recht leicht besetzten Orchester (nur zwei Percussionisten und vier Hörner ergänzen Streicher und Holzbläser), wozu schon die Übernahme der einleitenden Violinenelegie durch die Kontrabässe zählt, ganz besonders aber die fast sinistre Atmosphäre, die sich bei den ersten Einsätzen der Percussion aufbaut. Weitere Versuche eines solchen Atmosphäreaufbaus werden leider zumeist durch einen neuen Einwurf von Ondes Martenot meets Micky Maus am Keimen gehindert, was schade ist. Trotzdem bekommen die Musiker ordentlichen Applaus, und Christian Tetzlaff darf sogar noch eine Zugabe abliefern. Ob sich das Werk durchsetzen wird, bleibt fraglich, ist aber zu erwarten, denn sein "Störungspotential" liegt, wenn man mal von den erwähnten an den Nerven zerrenden Antagonismen absieht, für Neue Musik noch am unteren Ende der Skala, und das sollte in den heutigen Zeiten eigentlich schon reichen.
Nach der Pause liegt Anton Bruckners 9. Sinfonie auf den Pulten des deutlich gewachsenen Orchesters, und zwar in seiner klassischen dreisätzigen Version - den vierten Satz hatte Bruckner nicht mehr fertigstellen können, da ihn der Widmungsträger der Sinfonie ("Dem lieben Gott") daran hinderte und dafür sorgte, daß seine schon fertigen Ausarbeitungsteile in alle Winde zerstreut wurden, woraus bis heute nur ein unvollständiges Bild rekonstruiert werden konnte und sich im Gegensatz etwa zu Mahlers 10. Sinfonie die Praxis herausbildete, nur die ersten drei Sätze zu spielen und das Fragment des vierten Fragment sein zu lassen. Gemäß der in der Satzbezeichnung verankerten Spielanweisung "Feierlich, Misterioso" läßt Honeck das Orchester den ersten Satz eher langsam aufbauen, auch das erste große Fortissimo bleibt eher gedeckt als strahlend, und die Kontrabässe verdienen sich erneut ein Sonderlob durch ihre schöne kantable Arbeit im zweiten Hauptthema. Bis auf das verzerrte Blech sitzt das zweite Fortissimo wie eine Eins, von da an leistet aber auch das Blech gute Arbeit, meint es phasenweise sogar zu gut, denn es übertönt oft und gern die "Untervegetation" (wie Herbert Blomstedt so schön zu sagen pflegte), hat seinerseits aber gegen die unglaublich lauten Paukenwirbel wenig Chancen. Klarer Fall: Die Junge Deutsche Philharmonie beteiligt sich mit jugendlichem Schwung am Prinzip "Bruckner = Materialschlacht" (den antagonistischen entschlackten Ansatz hat man unlängst erst mit der 8. bei der Robert-Schumann-Philharmonie Chemnitz unter Niksa Bareza gehört), was seine Vor- wie Nachteile hat. Da schießt man als Jugendorchester auch manchmal übers Ziel hinaus, wie etwa der etwas zu knisterige Totalzusammenbruch oder die danach leicht unsauberen Streichereinsätze zeigen, bevor sich gegen Satzende eine schöne Stimmung breitmacht, die nur im Schlußton ein klein wenig getrübt wird, bei dem der Pauker einen Tick zu früh dran ist - ein verzeihlicher Fehler bei einem Projektorchester, das nicht jahrzehntelang unter dem gleichen Dirigenten zusammenspielt und sich daher blind versteht. Die jugendliche Frische offenbart ihre Vorteile vor allem im zweiten Satz, dem Scherzo, dessen marschartiges Thema zwar auch nicht ganz sauber sitzt, aber dafür eine immense Power transportiert (und zeigt, daß nicht etwa Grave Digger oder Manowar das grundtönige Riffing erfunden haben), die auch seine verschiedenartigen Zusammenbrüche trotz bisweilen leichten Holperns immer spannend hält. Und außerdem hält dieses Scherzo den Beweis parat, daß man leise und trotzdem extrem schnell spielen kann - laut und extrem schnell ist bekanntlich einfach, leise und extrem schnell aber deutlich schwieriger. Das Adagio an dritter Position läßt die Hornisten (die übrigens in der seltenen Anzahl von 7 auf der Bühne sitzen - wohl ungeplant, denn die Besetzungsliste im Programmheft weist 8 aus) zu den Wagnertuben greifen, die Bruckner erstmalig in der 7. Sinfonie eingesetzt hat, und damit wunderbare cineastische Effekte erzielen, an denen auch die Bässe einen wichtigen Anteil haben (und sich damit schon zum dritten Mal ein Sonderlob verdienen). Aber auch hier greift die Materialschlacht mit ihren Vor- wie Nachteilen bald um sich, mit dem Schlußteil gelingt den jungen Musikern dann allerdings ein prächtiger elegischer Grabstein für den Komponisten, wofür die Wagnertuben (die Bruckner in der 7. Sinfonie als akustischen Grabstein für Richard Wagner eingebaut hatte) erneut an zentraler Stelle mitverantwortlich sind. Das mächtige Häuflein im Publikum applaudiert in angemessener Weise und entläßt die jungen Musiker mehr als freundlich auf den stressigen weiteren Tourweg (sechs Konzerte an sechs Tagen mit dazwischenliegenden Fahrstrecken durch die halbe Bundesrepublik).



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