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Simón Bolívar Youth Orchestra of Venezuela   24.08.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Na also, es geht doch. Während zu sonstigen Konzerten der Jugendorchesterserie im Leipziger Gewandhaus trotz hochklassiger Orchester, interessanter Programme und günstiger Eintrittspreise bisweilen doch der eine oder andere Platz verwaist bleibt (man erinnert sich etwa an das mächtige Publikumshäuflein beim Chicago Youth Symphony Orchestra zwei Monate zuvor), geht's diesmal anders herum: Full House, eine lange Restkartenschlange, eine Anzahl wandelnde "Suche Karte"-Schilder vor dem Haus wie letztmalig bei Bachs Matthäuspassion - der Leipziger hat nach der Sommerpause wieder großen Konzerthunger, und eine großflächige Berichterstattung im Lokalblatt hat den Appetit offensichtlich weiter angeheizt, denn der einleitende Vortrag über das Jugendorchestersystem in Venezuela, das seit 1975 konsequent aufgebaut worden ist und vor allem Kindern aus der sozialen Unterschicht die Möglichkeit bietet, kulturell aktiv zu werden (momentan spielt dort eine Viertelmillion Jugendlicher in über 200 von einem staatlichen Fördersystem verwalteten und finanzierten Orchestern), muß aus Kapazitätsgründen in den Großen Saal verlegt werden, was das Interesse unterstreicht, das man hierzulande diesem System entgegenbringt (in diesem Falle muß ein den DDR-sozialisierten Lesern sicher noch bekannter Spruch abgewandelt "Von Venezuela lernen heißt siegen lernen" heißen) - nicht zu Unrecht, denn die Ubiquitarität des venezolanischen Systems führt den Unterschied zwischen demokratischer Theorie und plutokratischer Praxis des bundesdeutschen Nachwuchsfördersystems deutlich vor Augen. Interessanterweise kostet das System den venezolanischen Staat gerade einmal 29 Millionen US-Dollar jährlich - verglichen mit den Ausgaben beispielsweise für ein modernes Kampfflugzeug ist das verschwindend wenig und verdeutlicht die Prioritäten, die man hier wie da und andernorts setzt. Aus dem System ist neben dem Simón Bolívar Youth Orchestra (dem Eliteensemble des Systems) auch der Dirigent Gustavo Dudamel hervorgegangen, trotz seiner gerade mal 26 Jahre schon ein hochdotierter Pultakrobat, zum vierten Mal mit dem Orchester auf Deutschlandtour und im Oktober 2007 gleich noch einmal im Gewandhaus, dann aber als Gastdirigent des Gewandhausorchesters. Der Mann hat den großen Orchesterapparat problemlos im Griff, leitet sehr körper- und gestenbedingt, setzt aber auch auf akustische Kommunikation mit seinen Musikern (er singt phasenweise sogar mit) und bekommt als waschechter Südamerikaner bedarfsweise sogar einen lasziven Hüftschwung hin.
Das Programm des Konzerts ist zweigeteilt - die erste Hälfte gehört Leonard Bernstein, die zweite Gustav Mahler. Ungefähr 20 Sekunden braucht das Orchester, bis es sich in Bernsteins "Candide"-Ouvertüre eingegroovt hat, danach leistet es fast filmmusiktaugliche bildhafte Arbeit, schwelgt in weit ausholenden Linien, malt ein Wiener Kaffeehaus an die imaginäre Wand und läßt darob sogar vergessen, daß sich die Celli und Bässe in ihrem gemeinsamen Solo ein wenig unkoordiniert präsentieren. Macht Spaß, dieses Stück in dieser lebendigen Version - Prädikat: "So kann's weitergehen."
Geht es auch: Bernstein hatte 1961 neun Stücke aus seiner "West Side Story" zu einer Suite arrangiert, die er "Sinfonische Tänze" nannte und die tatsächlich zwischen den Eckpunkten Sinfonik und Tanz pendeln. Zudem stellen sie eine noch schwierigere Aufgabe als die schon nicht leichte, ein großes Orchester zum Grooven zu bringen: In "Somewhere" muß das Orchester mit voller Cellobesetzung auch noch wie eine kleinbesetzte Jazzband klingen, und diese Aufgabe meistern Dudamel und seine übrigens zum überwiegenden Teil männlichen Mitstreiter in bewunderungswürdiger Art und Weise. Klar, auch hier könnte man noch kleine Dinge verbessern, so etwa das Zusammenspiel in der Solopassage in "Somewhere", wo die Harfe ein wenig zu statisch wirkt. Aber spätestens mit dem "Mambo" liefert das Orchester sein Meisterstück ab - trotz allen tänzerischen Charakters immer noch unterschwellige Brutalität zu transportieren und dabei exakt auf den Punkt zu kommen, ohne den Eindruck zu erwecken, man habe schon diversen Alkohol intus, das muß man erstmal fertigbringen, und diese Aufgabe scheint wie geschaffen für die jugendlichen Venezolaner, deren Altersspektrum zwischen 16 und 26 Jahren liegt. Die rhythmusbetonte Präzisionsarbeit setzt sich auch in den folgenden Sätzen fort, bevor sich der Soloflötist durch sein wunderbar eskapistisches Solo am Finaleingang ein Sonderlob verdient (und applaustechnisch hinterher entsprechend besonders gefeiert wird) und die Streicher ein Tränenpotential auffahren, als ob man bestimmte "Titanic"-Szenen sehen würde. Da kommt man auch als Eisberg nicht ums Auftauen herum, und mit lautem Applaus werden der Dirigent und sein Orchester in die Pause verabschiedet.
Gustav Mahlers Fünfte Sinfonie hatte ein reichliches Jahr zuvor schon einmal ein spanischwurzelndes Orchester in Leipzig gespielt, nämlich das Castello Youth Symphony Orchestra, allerdings alleinstehend ohne weitere Werke im Programm. Hatten die Spanier damals im Großen Saal der Musikhochschule mit Frische, aber auch mit Lautstärke nicht gegeizt und wahre Soundwälle erschaffen, so stehen die Venezolaner im Großen Saal des Gewandhauses vor einer anderen Situation. Der Saal ist deutlich größer als der in der Hochschule und akustisch somit doch etwas anders beschaffen. Zudem sitzt der Rezensent diesmal auf der Orgelempore, also in der entgegengesetzten Abstrahlrichtung der meisten Instrumente - und dann ist da ja noch die Programmgestaltung, bei der man deutlich merkt, wie stark ihr Einfluß auf den Höreindruck ist. Die 50 Jahre musikalischer Entwicklung zwischen der Mahler-Sinfonie und der Bernstein-Suite werden besonders in der Gestaltung der extremen und powervollen Passagen deutlich, wo Bernstein eben ganz einfach 50 Jahre mehr Erfahrungsschatz in der Umsetzung musikalischer Brutalität vorweisen kann. Addiert man zu diesem Faktum noch den Platz des Rezensenten und die Tatsache, daß Dudamel auch bei neutralstmöglicher Betrachtung und Versuch der relativierenden Einbeziehung der beiden anderen Faktoren eher mit mäßiger Energie in die Sinfonie einsteigt, ergibt sich das erstaunliche Bild, daß die komplette erste Abteilung des Werkes, also die beiden ersten Sätze, plötzlich fast wie Kammermusik wirken - ein Eindruck, der sich erst im Finale des zweiten Satzes zu verlieren beginnt, weil erstens das innere Ohr des Rezipienten Bernstein schrittweise zu vergessen beginnt und zweitens der Dirigent seine Musiker dann doch ein Stück weiter von der Leine zu lassen beginnt. Der Forderung Mahlers, den zweiten Satz mit größter Vehemenz zu spielen, kommt das Orchester also nur bedingt nach, auch die intendierte Trostlosigkeit des ersten Satzes scheint nicht so intensiv durch, das erste Tutti wirkt viel zu kraftlos, zu undepressiv und zu wenig raumgreifend. Diese kleinen Problempunkte kompensiert Dudamel aber durch einen zauberhaften Pianoschluß des ersten Satzes, wenngleich er die Spannung nicht ganz so lange schweben läßt wie Riccardo Chailly in vergleichbaren Fällen. Dem mäßig wilden Intro-Gesäge des zweiten Satzes folgt u.a. ein wunderbar im Piano grollender Drumteppich hinter dem Cellosolo, aber auch ein großer walzerartiger Part, der zähflüssig wirkt und nicht von der Stelle kommen will, was wiederum den Doom Metal-Liebhaber, so außer dem Rezensenten noch weitere solche im Publikum gewesen sein sollten, hätte begeistern können. Zum Grooven bringt der Dirigent das Orchester allerdings auch im Scherzo zu selten (Ausnahme: "das große Zupfen"), besticht aber dafür durch eine exakte große Temposteigerung und ein partyverdächtiges Finale; bereits vorher hat der Solohornist seinen späteren Sonderapplaus redlich verdient. Das berühmte Adagietto bekommen die Venezolaner nicht ganz so eskapistisch hin wie die Spanier ein Jahr zuvor, aber die Harmonien sitzen trotzdem wie eine Eins, und der Übergang ins Finale findet mal wieder so butterweich statt, daß selbst der Teutone Mahler mit der Zunge hätte schnalzen müssen und der Franzose Messiaen darin ein Lehrstück hätte erblicken können, wie man zwei schlummernde Liebende auf einer Sommerwiese akustisch darstellt, ohne den Hörer ebenfalls zum Einschlummern zu animieren. Das Finale zeigt dann die stärkste Dynamik der ganzen Sinfonie, Dudamel läßt das Orchester nochmal etwas von der Leine, auch lautstärketechnisch (ohne indes Wälle wie die Spanier zu errichten - das ist wie erwähnt im Gewandhaus auch schwieriger als im kleineren Hochschulsaal), und mit einem strahlend schönen Schluß verabschieden sich die jungen Venezolaner vom begeisterten Publikum, das eigentlich durchaus noch eine Zugabe verdient gehabt hätte (und wenn man die Bernstein-Ouvertüre nochmal gespielt hätte ...). Ein kleines Detail fällt dabei auf, das der Rezensent bisher im Gewandhaus kaum gesehen hat: Dudamel fordert das Orchester auf, sich auch mal umzudrehen und dem Publikum auf der Orgelempore zuzuwenden - ein schönes Sinnbild der Bedeutung aller Menschen, das im venezolanischen Jugendorchesterfördersystem sein strukturelles Ebenbild findet.



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