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Johann Sebastian Bach: Matthäuspassion   29.03.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Doppelt ausverkauftes Haus an diesem und am Folgeabend, und das trotz der Tatsache, daß diese Matthäuspassion eigentlich "nur" eine Zugabe zum regulären Passionsprogramm der durchs Gewandhaus unterstützten Thomaner (welchselbiges anno 2007 die Johannespassion beinhaltet) darstellt und auch noch eine Handvoll weitere Träger in Leipzig große barocke Passionsschinken aufs Pult hieven - wer behauptet da noch, das Interesse am Religiösen und an der althergebrachten Musik, gemixt mithin der klassischen Kirchenmusik, sei im Sinkflug begriffen? Gut, das hier rezensierte Konzert kann aufgrund seines gleich doppelten Leuchtturmcharakters nicht unbedingt als allgemeingültiger Maßstab angesehen werden - einerseits sind hier ausgewiesene Könner am Werk, von denen man Spitzenleistungen von vornherein erwartet, und dann ist gerade die Matthäuspassion ja auch nicht irgendein Werk, sondern dasjenige, ohne das die heutige Musiklandschaft etwas anders aussehen würde. Hätte der große JSB seine Matthäuspassion nämlich nicht geschrieben, hätte Felix Mendelssohn Bartholdy sie anno 1829 auch nicht wiederaufführen können (erstmals seit JSBs Tod) und damit auch nicht den Prozeß der Wiederentdeckung der barocken (und älteren) Musik in Gang setzen können, der heute immerhin Myriaden von Konzertprogrammen füllt und auch Einflußlinien bis in alle möglichen und unmöglichen Musiksparten der Gegenwart spinnt - selbst Teile der Heavy Metal-Szene würden aussterben bzw. nie geboren worden sein, würde die Musik aus den Vorzeiten der Wiener Klassik mit einem Mal komplett zu Staub zerfallen. Natürlich wäre damit zu rechnen gewesen, daß die Wiederentdeckung dieser Musik, gäbe es die Matthäuspassion nicht, sich irgendwie anderweitig Bahn gebrochen hätte, aber der Prozeß wäre eben anders verlaufen, und wir können nur spekulieren, wie.
Sei's drum, JSB hat das Werk geschrieben, FMB hat es wieder entdeckt, und RC widmet sich ihm an diesem Abend. RC ist natürlich Riccardo Chailly am Pult des Gewandhausorchesters, das zweigeteilt agiert, um den dialogisierenden Charakter vieler Passagen adäquat umsetzen zu können; Analoges gilt für den Dresdner Kammerchor, der witzigerweise auf der Bühne gleich mal die doppelte Kopfzahl aufweist wie auf dem Ensemblefoto im Booklet. Zwischen den beiden Chorteilen hat sich zumindest im ersten Teil der GewandhausKinderchor plaziert (daß er im zweiten Teil nicht mehr mit von der Partie ist, dürfte weniger künstlerische als vielmehr gesetzesstrukturelle Gründe haben, denn die Aufführung beginnt 20 Uhr und zieht sich bis kurz vor 23.30 Uhr hin, und um Minderjährige zu dieser Endzeit noch auf eine Bühne stellen zu dürfen, braucht man in Deutschland vermutlich eine Tonne von Ausnahmegenehmigungen - von der Überlegung, ob das unbedingt sein muß, mal abgesehen). Die Kinderchor-Mitwirkung stellt sich allerdings als absoluter Glücksgriff heraus, denn was die Kinder schon im Eingangschor leisten (sie fungieren als "Ripienisten" für den Erwachsenenchor, wobei es sich bei ihrer Rolle aber nicht um ein klassisches Ripieno mit einfacher Verstärkungswirkung handelt - vielmehr fügen die Kinder strukturierende Choralzeilen in das von den Erwachsenen inszenierte Volkstrauergemurmel ein und retten damit diesen Part vor der völligen Undurchschaubarkeit, dem "Chaos statt Musik" im verzweifeltsten Stalinschen Sinne, das ansonsten hier hätte drohen können), verdient ein hohes Lob, und auch in der Folge des ersten Teiles bewährt sich ihr Einsatz: Sie haben quasi keine Leadfunktionen - aber sie sind zur Unterstützung da, wenn sie gebraucht werden, was besonders im zweiten Teil an manchen Stellen deutlich wird, wo sie eben nicht mehr da sind und eine Lücke nicht nur optisch auf der Bühne hinterlassen. Dafür steigert sich der Dresdner Kammerchor im Verlaufe der Passion deutlich. Hinterläßt der Eingangschor noch Zweifel, ob das auch ohne die Kinder so funktioniert hätte oder doch abgekippt wäre, so klappen im weiteren besonders in den extremen Positionen dem Hörer förmlich die Kinnladen herunter. Nr. 27b in der Gefangennahmeszene etwa kommt schön infernalisch wütend daher, "Barrabam!" in Nr. 45a bei der Frage nach dem Freizulassenden steht dem nicht nach, und auch der schreiende Einwurf "Er ist des Todes schuldig" (Nr. 36b, Hohepriesterszene) erfüllt alle Intensitätswünsche, auf die man in dieser Szene nur kommen kann. Umgekehrt - und noch mehr beeindruckend - überzeugen die zurückhaltenden Passagen bis ins Letzte, beweist der Chor, wie leise, fragil, fast zerbrechend man in einer Stärke von 60 Sängern noch singen kann, und das ist der Haupttrumpf dieser Aufführung. Dazu kommt eine betörende Fähigkeit, elegische Choralstrophen zu interpretieren und die Tränendrüsen bei einem großen Teil des Publikums zu öffnen, ohne in billigen Schmalz zu verfallen. Allein für diese Beobachtung hätte sich der Besuch schon gelohnt - aber das Orchester mit seinem Dirigenten an der Spitze will da natürlich nicht zurückstehen, wenngleich es nicht mit noch stärkeren bzw. intensiveren Reizen aufwarten kann. Aber die Instrumentalsolisten wie die Continuogruppen (auch derer gibt es zwei und somit auch zwei Organisten - Gewandhausorganist Michael Schönheit hat Denny Wilke als Counterpart bekommen, und beide stellen sich hervorragend in den Dienst des Werkes, agieren nur als die intendierte Begleitung und nicht als verkappte Ego-Solisten; nur in ganz wenigen Passagen wirft Schönheit neben den Gedackt-Registern auch mal einen Prinzipal an, und daß ausgerechnet diese Passagen dann etwas an die Zeilenschlußbreaks in "September Sun" von der neuen Type O Negative-CD "Dead Again" erinnern, dürfte purster Zufall sein, wenngleich natürlich nicht ausgeschlossen werden kann, daß Type O-Keyboarder Josh Silver das JSB-Werk kennt) unterschreiten allesamt ein hohes Niveau nicht, und dann ist ja da noch der Dirigent selbst, der eine seiner offenbar größten Stärken auch an diesem Abend kultiviert: das Ausklingenlassen leiser, ersterbender Passagen unter einer immensen Spannung und das Stehenlassen dieser Spannung exakt bis zu diesem Moment, in dem sie zusammenzufallen droht. Das war beispielsweise in Mahlers Dritter zu den Festkonzerten "25 Jahre Neues Gewandhaus" im Herbst 2006 sehr schön zu verfolgen, und das ist auch in dieser Matthäuspassion wieder so (das äußere Zeichen darin findend, daß die Nettospieldauer um mehr als 10 Minuten über den im Programmheft angegebenen 180 Minuten liegt, ohne daß das Grundtempo irgendwie verschleppt worden wäre). Als symptomatisch kann die Todesszene Nr. 61e gelten, in der Evangelist Marcus Ullmann nach "Aber Jesus schriee abermals laut" eine solche Ersterbenspassage verordnet bekommt, bevor er mit "und verschied" weitermachen darf - dieser Moment gekoppelt mit dem die bereits erwähnten Chortugenden wohl am intensivsten transportierenden anschließenden Choral "Wenn ich einmal soll scheiden" markiert zweifellos den kreativen wie emotionalen Kulminationspunkt dieser Aufführung. Hier haben sich mit Chailly, Ullmann und dem Chor drei Komponenten getroffen und ein Ergebnis erzeugt, das viel, viel größer ist als ihre einfache Summe.
Lob über Lob also? Mitnichten, denn da gibt es ja auch noch die Solistenriege, und da finden sich doch etliche Gründe, wieso unterm Strich zwar eine sehr gute, aber eben keine allumfassend geniale Aufführung herauskommt. Als symptomatisch zu bewerten ist hier die Tatsache, daß ausgerechnet Ullmann als Ersatz-Evangelist (Johannes Chum war krankheitsbedingt ausgefallen) nach kleinen Anlaufschwierigkeiten am allermeisten überzeugt, sowohl sängerisch als auch in puncto der Textverständlichkeit. Am anderen Ende der Qualitätsskala steht Arienbaß Anton Scharinger, der im höheren Bereich noch halbwegs punkten kann, nach unten hin aber leider eher Mulmiges zutage fördert. Stimmkollege Stephan Loges scheitert noch mit dem Versuch, Judas ein besonders hinterlistiges Moment zu inkorporieren, kann sich aber als Petrus steigern und einige schöne Ausdruckspassagen intonieren. Der andere Stimmkollege Klaus Häger als Jesus macht in den energisch zupackenden wie in den zarten Passagen die beste Figur und fällt sonst nicht weiter auf (was für diese Rolle nicht unbedingt als Kompliment zu werten ist, wenngleich es dem Anspruch Jesu als "Menschensohn" durchaus nicht antagonistisch gegenübersteht), und Arientenor Christoph Genz hat nicht allzuviel zu tun. Bleiben die beiden Damen, wo erstmal positiv auffällt, daß man mit Sophie Karthäuser keine schrille, sondern eine eher gedeckt singende Sopranistin besetzt hat, die zudem in der Arie "Aus Liebe will mein Heiland sterben" auf dem Weg zum zweiten magischen Moment dieser Aufführung ist, das Ziel letztlich aber nicht ganz erreicht, was an einigen kleinen Unstimmigkeiten mit der als Unterbau solierenden (!) Flötistin und am in diesem Falle einen Tick zu hohen Tempo liegt. Altistin Bernarda Fink singt generell solide, kann sich aber akustisch nicht genug durchsetzen und hat beispielsweise in der letzten Zeile des Geißelungsrezitativs Nr. 51 nichts mehr zum Draufpacken; auch die Harmonie zwischen den beiden Damen im Gethsemane-Duett Nr. 27a will sich nicht so recht einstellen, während der Chor mit seinen dortigen Einwürfen absolut paßgenau sitzt und damit die generelle Qualitätsverteilung der Aufführung quasi auf den Punkt bringt. Wie bereits oben erwähnt: Allein der Kulminationspunkt hätte den Besuch bereits gelohnt (und eigentlich ist alles, was JSB noch dahinter plaziert hat, auch nicht mehr als harmloses Nachgeplänkel, der Abschlußchoral nach heutigen musikalischen Maßstäben in der Umsetzung von Trauer und Verzweiflung gar deutlich abfallend - aber der Komponist konnte natürlich nicht ahnen, daß es eines Tages Bands wie My Dying Bride geben würde, welche dieses Ziel mit anderen Mitteln noch viel intensiver erreichen), aber generell darf sich die Aufführung ein sehr gutes Prädikat umhängen, nicht ohne noch etwas Luft nach oben hin zu lassen.



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