www.Crossover-agm.de
Chicago Youth Symphony Orchestra   23.06.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Es ehrt das Gewandhaus zu Leipzig, daß es den auf drei Jahre angelegten Jugendorchesterzyklus konsequent durchzieht, auch wenn der Große Saal dabei meist nur halbvoll ist. Es ehrt das Leipziger Konzertpublikum allerdings nun ganz und gar nicht, daß es sich die Chance auf erstklassige Konzerte mit frischem Anspruch, gespielt von selten zu hörenden Orchestern und auch noch zum günstigen Eintrittspreis feilgeboten, zu einem guten Teil entgehen läßt. Zwar geht andererseits das Konzept durchaus auf, junge Leute zum Konzertbesuch zu animieren (der Altersdurchschnitt liegt an diesem Abend deutlich unter dem, den man an dieser Stelle für gewöhnlich antrifft), aber wenn man mal die jugendlichen Besucher und die in Leipzig lebenden Amerikaner, von denen ohrenscheinlich eine starke Fraktion angerückt ist, um ihre jungen Landsleute zu begutachten, vom Gesamtpublikum subtrahiert, bleibt nur ein arg kleiner Teil des "üblichen" Konzertpublikums übrig (die Unerfahrenheit der Anwesenden wird auch dadurch deutlich, daß eine ganze Menge Menschen nach dem ersten Satz der 1. Sinfonie von Brahms zu applaudieren beginnt, was ganz offensichtlich aber nicht als Szenenapplaus gedacht gewesen ist). Nicht mal größere Konkurrenzveranstaltungen am gleichen Abend taugen als Erklärung - solche gab es schlicht und einfach nicht (von einem ebenfalls amerikanisch determinierten Jazzoratorium in der Peterskirche mal abgesehen). Waren alle noch vom Bachfest gesättigt? Angst vor einem zu fremdartigen Programm kann es auch nicht gewesen sein, denn die Chicagoer hatten neben Johannes Brahms noch Richard Strauss auf den Spielplan gesetzt, ergänzt durch Samuel Barber als einzigen Unsicherheitsfaktor, der zugleich den Originalitätsfaktor bildete (und damit auch die "Brahms und Strauss haben wir schon 20mal gehört"-Fraktion hätte anlocken können).
Sei's drum: Samuel Barbers "Second Essay For Orchestra" op. 17 eröffnet den Abend, nachdem man die eigenartige Stimmweise des Orchesters begutachtet hat (anstelle der üblichen Zweiteilung in Holzbläser und Rest wird hier viergeteilt gestimmt - Holzbläser, Blechbläser, Kontrabässe und Rest), und entpuppt sich als Entdeckung vor allem für Filmmusikfreunde. Was die legendären Südstaatenrocker Mountain Jahrzehnte später als Songtitel wählten, hätte auch als Titel dieser 1942 (übrigens durch den ehemaligen Gewandhauskapellmeister Bruno Walter) uraufgeführten Komposition dienen können: "Theme From An Imaginary Western". Vor allem in der markanten Hornpassage nach dem ersten großen Tutti wähnt man sich in der Weite des Wilden Westens, wo die unendliche Prärie aber immer wieder durch schroffe Canyons oder ebenso schroffe Berge unterbrochen wird. Diese Brüche werden vom Orchester, dessen Mitglieder größtenteils zwischen 13 und 18 Jahren alt sind, sehr gut herausmodelliert, und die hervorragend grollenden Blechbläser, kompetent paukenunterstützt, machen leichte Unsicherheiten der Streicher etwa in der zu sehr nach Unordnung klingenden Passage vor der ersten großen Steigerung locker wieder wett, wohingegen die Holzbläser mit ihrer ausgedehnten Kommunikationspassage in verschiedenen Besetzungen im Mitteltel das witzige wie spielerische Highlight des Werkes setzen können. Die nicht ganz tighte Beendigung des Schlußtons macht deutlich, daß es sich eben doch "nur" um ein Projektorchester handelt, das zudem wie jedes Jugendorchester aus biologischen Gründen durch ständige Mitgliederfluktuation geprägt wie geplagt ist und daher die traumwandlerische Sicherheit eines jahrzehntelang gewachsenen und permanent probenden Berufsorchesters nicht ganz erreichen kann. Macht aber nichts - allein schon für die Programmwahl dieses Stückes muß man dem Orchester dankbar sein.
Ein wenig problematischer macht sich der genannte Fakt dann im zweiten Werk des Abends bemerkbar: Die jungen Amerikaner wagen sich an Richard Strauss' "Tod und Verklärung" und damit an ein Werk, das quasi eine Umsetzung von Transzendenz in Musik verlangt. Damit ist das Orchester besonders im einleitenden Teil deutlich überfordert, die zweiten Violinen klingen hilflos und leer statt transzendent, und erst das Hinzutreten der ersten Violinen läßt eine Ahnung von dem aufkommen, was da gemeint gewesen sein könnte. Zudem macht sich die mangelnde Erfahrung der Jugendlichen bemerkbar, wie man spielt und blättert, ohne störende Nebengeräusche zu erzeugen - das Gewandhaus, in dem das Orchester den Abschluß seiner Europatour spielt, ist nun einmal akustisch so perfekt gebaut, daß man da auch solche Sachen hört, die man eigentlich gar nicht hören soll und die das etwaige Aufkommen von transzendental-entrückter Stimmung noch zusätzlich erschweren. Auch die bisweilen sehr harten Einsätze etwa einiger Bläser sind der Stimmung nicht eben förderlich, was die teilweise wirklich zauberhafte Oboe nicht wettmachen kann. Dafür gelingen die Tutti den jungen Amerikanern samt dem sehr dynamisch determiniert dirigierenden, auch noch recht jungen Allen Tinkham über weite Strecken sehr gut, die Kontrabässe klingen dort, wo sie das müssen, tatsächlich so wie ein Elefant mit Flatulenz, und der verklärende C-Dur-Schluß besitzt einen richtig groß-feierlichen Gestus, auch wenn das im Programmheft dort versprochene Tamtam durch Paukenklänge ersetzt wird.
Nach der Pause folgt dann also die 1. Sinfonie von Johannes Brahms, und hier bringen die Amerikaner (übrigens zum großen Teil Weiße, nur einige wenige Asiatischstämmige und noch weniger Schwarze) ein seltenes Kunststück fertig: Sie spielen beispielsweise den hölzern-teutonischen Eröffnungspart noch hölzern-teutonischer als die meisten deutschen Orchester. Das muß man erstmal hinbekommen - leider inszeniert das Orchester diese Tugend aber auch an einigen Stellen des 1. Satzes, wo sie eigentlich nicht ganz so angebracht erscheint, kompensiert das aber immer wieder mit hocheleganten Einwürfen, die den kammermusikalischen Background von Brahms deutlich herausmodellieren (schon Robert Schumann hatte auf diese Affinität hingewiesen, als er Brahms' Klaviersonaten als "verschleierte Sinfonien" bezeichnete - ein Verhältnis, das auch in entgegengesetzter Betrachtungsweise funktioniert). Im Andante sostenuto, das den 2. Satz bildet, gelingt dies gar noch besser: Die Oboe ist wieder in Bestform, die elegisch-romantische Stimmung breitet sich in eindrucksvoller Weise aus, und obwohl das Zusammenspiel zwischen Horn und Solovioline im Schlußteil noch ein paar kleine Reserven offenläßt, verzaubert die blonde langhaarige Bedienerin des letztgenannten Instrumentes mit ihrem singenden Ton doch die Herzen der Zuhörer so sehr, daß man die Unauffälligkeit des folgenden Allegrettos, das zum linken Ohr hineingeht und aus dem rechten Ohr wieder entfleucht, komplett dem Komponisten in die Schuhe schieben möchte. Aber dafür überzeugt das Adagio, das den letzten Satz eröffnet - das hätte, sieht man von der komischen Tempoverschärfung (exakt gespielt!) im Zupfpart der Streicher ab, jedwede neuzeitliche Doom Metal-Band mit Kußhand übernommen. Zwar fehlt auch dem Marschthema im angeschlossenen Allegro non troppo etwas die scharfe Kontur, aber sehr schöne Choralpassagen sowohl in den Posaunen als auch danach in den Streichern (!! - choralartig zu spielen muß man mit einem nicht zu knapp besetzten Orchester auch erstmal schaffen) und im Holz machen das locker wieder wett, und der Schlußteil gelingt schön strahlend, der Mensch ist durch die Nacht zum Licht gedrungen, und Prometheus ist befreit (so Max Klinger in einer im Programmheft abgedruckten Radierung aus dem Zyklus "Brahms-Phantasie" - auch wenn Klinger dem Motiv zufolge wohl nie im Kaukasus war, wo Prometheus ja an den Kasbek gekettet gewesen war). Starker Applaus belohnt das Orchester, das sich nicht lumpen läßt und gleich zwei Zugaben bietet, mit DEM abschließenden Brahmsischen Ungarischen Tanz noch einmal den Bogen zum zweiten Konzertteil schlägt. Ein Konzert mit kleinen Schwächen, aber vielen Stärken, das eine deutlich größere Besucherzahl verdient gehabt hätte.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver