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Gesang der Liebe   15.05.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

"Das ist Musik, die das Publikum nicht verstehen muß", sagt eine Besucherin in der Reihe hinter dem Rezensenten nach dem Konzert und trifft damit gleich eine ganze Nagelreihe auf den Kopf. Immerhin gibt es Menschen (der Musikwissenschaftler Robert Helmschrott sei als Beispiel genannt), die Olivier Messiaen als den ultimativen Kirchenmusikkomponisten des 20. Jahrhunderts ansehen und sich den polemischen Anwurf gefallen lassen müssen, daß, wenn das stimmen würde, die Kirchen heute einen noch viel größeren Mitgliederschwund zu verzeichnen hätten als den, unter dem sie sowieso schon zu leiden haben. Dabei soll nicht verschwiegen werden, daß Messiaen tatsächlich brillant durchstrukturierte und wegweisende Werke geschaffen hat, unter denen das Orgelwerk "Die Erscheinung der ewigen Kirche" besonders hervorgehoben sei. Das Problem ist nun nur, daß er die Tugenden, die er in besagtem Orgelwerk kultivierte, keineswegs durchgängig umzusetzen gewillt oder in der Lage war. Klingender Beweis hierfür: seine Turangalila-Sinfonie, auf die sich eingangs erwähntes Zitat bezog und die das MDR Sinfonieorchester unter Günter Neuhold auf die Agenda eines sogar live übertragenen Rundfunkkonzertes gesetzt hatte. Schauen wir das Werk in der gebotenen Umsetzung mal durch:
Die Introduktion läßt mit ihrer schrillen Interpretation des Terminus "Tonalität" schon erahnen, was einen in der folgenden anderthalben Stunde noch so erwarten würde - und sie ist laut. Sehr laut sogar, wenngleich noch im verträglichen Bereich, aber doch schon so laut, daß man das Soloklavier (dem Messiaen selbst in seinem Werkkommentar immense Bedeutung zugewiesen hat!) über weite Strecken kaum hört. Überhaupt wird sich während der kompletten zehnsätzigen Sinfonie keine richtige Harmonie zwischen dem Klavier und dem Rest des Orchesters einstellen, musiziert Roger Muraro über weite Strecken wie losgelöst von den anderen Instrumentalisten - da er selbst Schüler von Messiaens zweiter Ehefrau war, die bei der Uraufführung 1949 den Klavierpart gespielt hatte, ist davon auszugehen, daß er die Vorgaben und Intentionen des Komponisten so korrekt wie möglich umzusetzen getrachtet hat. Manchmal entstehen auch tatsächlich fein ausziselierte Bilder beispielsweise der Naturimitation, aber sie sollen selten bleiben. An Muraros technischer Umsetzung freilich gibt es wenig auszusetzen - allein die logisch erscheinende Einbindung ins Gesamtbild läßt akut zu wünschen übrig, gelingt unter den herrschenden akustischen Verhältnissen phasenweise erst ab dem sechsten Satz und zuvor nur in einem einzigen Moment: in den brillanten fünf "Mahler-Akkorden" am Ende des fünften Satzes. Bis dahin hat das zweite Soloinstrument schon ein paar hörbare Finessen ausgepackt: Valérie Hartmann-Claverie bedient ein eher seltenes Instrument, das 1928 erfundene Ondes Martenot, eines der ersten elektroakustischen Instrumente und quasi eine Vorstufe zur Entwicklung des Synthesizers. Daß es mittlerweile im Prinzip ausgestorben ist, mag auch mit seinem gewöhnungsbedürftigen Klang zu tun haben, der spätestens seit seiner umfangreichen Verwendung in italienischen und französischen Kitschfilmen der 50er und 60er Jahre in der ernsten Musik gewissermaßen tabu war und erst im Krautrock der 70er (u.a. selbst bei Kraftwerk) noch einmal eine Auferstehung feiern sollte. Phasenweise klingt dieses Instrument so, als ob man eine Katze zwecks Schalldämpfung in einen Filzsack sperren und ihr anschließend auf den Schwanz treten würde - die klangliche Assoziation, die sich bei der Begleiterin des Rezensenten einstellte, wird aus Rücksichtnahme auf den minderjährigen Teil der Leserschaft hier verschwiegen (nur so viel: es hatte was mit der ursprünglichen Bedeutungszuweisung von "to rock and roll" zu tun). Jedenfalls kann das Ondes Martenot vor allem zu Beginn der Sinfonie, etwa im zweiten und dritten Satz, ein paar richtig interessante und coole Effekte einwerfen; auch das zupfende Geriffe der Celli im zweiten Satz geht als guter Einfall durch, wohingegen das Schlagwerk noch Reserven in puncto Prägnanz offenbart und das Blech während eines großen Teils der Sinfonie alles zu überdecken gewillt ist, was sich ihm in den Weg stellt, wobei ihm der Komponist aber auch nur selten Einhalt gebietet, etwa in der richtig schönen schwelgerischen Überleitung als Unterpunkt 2 des vierten Satzes, der als Antithese, wie man so etwas besser nicht macht, der komplette sechste Satz gegenübersteht. Das Liebespaar, dessen schrittweise geistige Vereinigung und Selbstaufgabe die komplette Sinfonie in Töne umsetzen soll, liegt hier im Garten und schläft, und die Umsetzung dieses Schlafes gehört zum Langweiligsten, was die Musikgeschichte jemals hervorgebracht hat, wenngleich wie oben erwähnt die Einpassung des Klaviers in den hier träge und monoton vor sich hinmusizierenden Rest des Orchesters mal richtig gelungen ist, was aber den Hörer nicht vom drohenden eigenen Entschwinden in Morpheus' Reich abhält - da sind dann nur noch die seltenen wuselnden Streichereinwürfe vor, die an einen Ameisenhaufen erinnern und damit nun ganz und gar nicht ins zu erzeugende Bild passen, wie jeder bestätigen wird, der irrtümlich schon mal auf einem Ameisenhaufen gelegen hat. Wenigstens hat der Komponist dem Satz ein schönes ersterbendes Ende verliehen (der engagiert, anfangs recht sparsam, später gestenreicher dirigierende Günter Neuhold läßt die Spannung dort nicht so weit ausspielen wie Kollege Chailly gelegentlich mit dem Gewandhausorchester, was aber auch am nicht vorhandenen Spannungsbogen im kompletten sechsten Satz liegen mag). Und auch das polyrhythmische Drumsolo im siebenten Satz gehört zu den Wiedergutmachungsmaßnahmen, bevor Messiaen die im fünften Satz erstmals offenbarte Tugend, richtig schönen und durchstrukturierten Krach zu schreiben, der in diesem Falle mit gehäuften Themenrepetitionen sogar auf die Popstilmittel folgender Jahrzehnte vorausweist und sich zu den meisten anderen Sätzen ungefähr so verhält wie Dream Theater zu Twisted Into Form, um mal ein neuzeitliches Exempel zu statuieren, gleich wieder ad acta legt und sie erst im zehnten und letzten Satz in leicht abgeschwächter Form noch einmal hervorzaubert. Dazwischen liegen allerdings die nervigsten Passagen der gesamten Sinfonie, begünstigt durch eine orchesterseitig immer weiter gesteigerte Lautstärke, die im achten und neunten Satz vor allem bei den Einsätzen des Ondes Martenot an Gesundheitsgefährdung grenzt und im Rezensenten, der immerhin eine dreistellige Anzahl von Heavy Metal-Konzerten hinter sich hat, den Wunsch nach Gehörschutz hervorruft. Vor allem die Höhen klirren derart grell, daß man die seltenen Einsätze der Kontrabässe zur Abmilderung förmlich herbeisehnt. Erst im zehnten Satz normalisiert sich die Lage wieder etwas, sowohl voluminös als auch kompositionsseitig. Bereits die eröffnende Blechfanfare geht wieder als Geniestreich durch, und hier dürfen die Trompeten mal ungehemmt fröhlich schmettern, ohne die Untervegetation zuzudecken - daß diese Passage den Nervfaktor deutlich senkt, sollte bezüglich der vorgelagerten Sätze Bände sprechen. Dieser zehnte Satz mit seinen klar strukturierten Tutti, gar den Unisoni am Ende zeigt erneut die Meisterschaft Messiaens in der durchhörbaren Gestaltung großer Orchesterformen, und es ist schade, daß er zwischendurch seinem Affen immer mal zuviel Zucker geben zu müssen glaubte, wenngleich unter anderen akustischen Bedingungen der eine oder andere Problemfall sicherlich noch eine einfache Auflösung erfahren hätte. Am Orchester liegt's über weite Strecken scheinbar nicht, daß der gesamte sinfonische Brocken in der Summe äußerst schwer verdaulich ausfällt, und so feiert das augenscheinlich im Durchschnitt erstaunlich junge Publikum im vielleicht halbvollen Gewandhaus weniger das Werk oder das Orchester als vielmehr sich selbst und das eigene Durchhaltevermögen, womit wir auf paradoxe Weise wieder beim einleitenden Zitat angekommen wären.



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