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Disillusion, Myra   21.10.2006   Leipzig, Conne Island
von ta

DISILLUSION sind Visionäre, schon immer und gegenwärtig mehr denn je. "Gloria" ist ein Album voller pulsierender Neuheit. Lagen zwischen dem technisch-melodischen Thrash von der "Three Neuron Kings"-EP und dem opulenten offiziellen Debüt "Back To Times Of Splendor" bereits ein paar Raumlängen stilistischen Abstands, sind es jetzt, zwischen "Back To Times Of Splendor" und "Gloria", ganze Welten. Man hätte also gespannt sein können, ob und wie es Disillusion gelingt, das dunkle, effektlastige Modern-Metal-Gebräu des Neulings live zu reproduzieren. "Hätte", weil der Rezensent das Album vor dem Konzert noch nicht ausgiebig genug konsultieren konnte, um die Songs angemessen mit ihren Live-Fassungen abzugleichen. Und da war er offenbar nicht der einzige. Aber dazu gleich.
Zunächst gab's nämlich MYRA um die Ohren geprügelt. Die sind generell ja gar nicht übel. Sie können spielen, sie bewegen sich, sie wirken sympathisch (OK, ein, zwei schwärmerische Ansagen weniger in Richtung Disillusion hätten es schon sein können) und ihre Songs sind nicht allzu langweilig arrangiert. Aber wenn man an diesem Abend eins nicht braucht, dann ist es Metalcore, erst recht nicht, wenn er von der Stange kommt. MYRA bieten stilistisch nichts, aber wirklich gar nichts, was sie von der Latte an Genre-Anführern auszeichnen könnte, dümpeln irgendwo in der Schnittmenge aus Göteborg-Death und mittelschnellem Hardcore herum, hätten bereits nach drei Songs von der Bühne verschwinden können, spielen aber leider acht oder neun Songs. Im richtigen Rahmenprogramm, wie etwa am zweiten Tag des Scheddelspalter-Festivals 2006, hat die unoriginelle Mixtur des Quintetts ihre Qualitäten, hier, im Rücken einer solch progressiven Band, wie es DISILLUSION sind, konnte es kaum eine größere Fehlbesetzung geben - was auch der Mini-Circle-Pit vor der Bühne, der in jede etwas geräumigere Speisekammer gepasst hätte, zeigt. Die einzigen MYRA-Ausrufezeichen an diesem Abend setzen erstens ein paar Blastbeats "für die Metaller im Publikum"; zweitens der generell positiv zu bewertende musikalische Aspekt, dass MYRA nicht mit Alibi-Clean-Gesang die Radiofraktion ködern; und zuletzt die mörderische Klaue auf der von mir nach dem Gig konfiszierten Setlist des Sängers, welche dafür sorgt, dass ich bis auf die Titel "CMS", "ToT" und "The Mirach" keine weiteren Angaben zu den gespielten Songs machen kann. Ist aber auch unnötig.
Aber nach den ersten DISILLUSION-Tönen ist die ganze Chose ohnehin vergeben und vergessen. Die Töne kommen diesmal zu Beginn vollständig aus der Konserve, nämlich vom Album. Der abgespielte Song entpuppt sich als "Don't Go Any Further", ist als Single aus "Gloria" ausgewählt worden und hat als erster Disillusion-Song überhaupt einen Videoclip an die Seite gestellt bekommen, welcher an diesem Abend in Leipzig seine Premierevorstellung coram publico feiert. Die Leinwand vor dem Drumset zeigt hektische Bilder mit den Bandmitgliedern als Schauspielern und über einem explodierenden Gebäude hubschraubernd. Eine symbolische Verabschiedung von der eigenen Vergangenheit? Möglicherweise. Ganz unsymbolisch ist diese Verabschiedung nämlich mit "Gloria" bereits geschehen - und damit in medias res. DISILLUSION machen sich die Songauswahl einfach. Es ist die offizielle Record Release-Party, die Band liebt ihre neuen Songs heiß und innig - und spielt folgerichtig einfach das gesamte "Gloria"-Album durch, wenngleich mit veränderter Songreihenfolge (Setlist s.u.). Ich merkte bereits an, dass mir das Album zum Zeitpunkt des Auftritts noch wenig bekannt gewesen ist, weswegen an dieser Stelle nur sporadische Beobachtungen zur Umsetzung notiert werden können: Den Riesenberg an Effekten, die auf dem Album zum Einsatz kommen, live wiederzugeben, ist ja nahezu unmöglich, besonders, wenn man einen ausgewogenen Sound erreichen will, und DISILLUSION versuchen die lückenlose Wiedergabe auch gar nicht erst. Besonders der Gesang von Vurtox, pardon: Andy Schmidt tönt live um einiges natürlicher und lässt die "Gloria"-Stücke in einem etwas zugänglicheren Lichte erstrahlen. Überdeutlich wird das an der akustischen Göttergabe "Untiefen", die Schmidt beinahe ganz alleine bestreitet und deren sparsame, völlig unglaubliche zweite Strophe den Höhepunkt dieses Abends, ja des ganzen Jahres markiert. Neben seiner tadellos geleimten Stimme unterhält Schmidt wie gewohnt mit leidenschaftlichem Stageacting, das auf dem schmalen Grad zwischen entspannter Lockerheit und wilder Zappelei irgendwo in der Mitte landet. Tonnenweise Charisma hat der Mann ja von jeher aufzubieten. Auch dem brillierenden Gitarristen Rajk Barthel steht die Begeisterung ins Gesicht geschrieben, während Jens Maluschka stoisch den Puls im Hintergrund markiert. Im Prinzip also eine Rollenverteilung wie gehabt. Da passt der superfette Einstieg mit dem neuen Doppelpack um "The Black Sea" und das eingängige "Save The Past" sowie dem heimlichen Hit "Alone I Stand In Fires" wie die Lerche nach Leipzig, und einem Abend für die Ewigkeit steht theoretisch nichts im Wege. Theoretisch. Praktisch indes ist offensichtlich, dass es nur, wirklich nur die alten Songs sind, die den Publikumskessel zum Sieden bringen, und von denen gibt es an diesem Abend lediglich vier zu hören, nämlich neben dem genannten Hit noch "The Porter" (das sozusagen zur Kreidezeit der Band zu zählen ist) und den Doppelschlag aus "And The Mirror Cracked" und dem überlangen Jahrhundertsong "Back To Times Of Splendor" (beide jüngere Bandvergangenheit). Während der neuen Tracks dagegen herrscht andächtiges Schweigen und weitestgehend Bewegungspause im Auditorium. Das kann und sollte man auch auf die Unkenntnis der neuen Songs schieben, aber eben nicht nur. Denn letztlich ist der Wechsel des stilistischen Lagers einfach zu radikal ausgefallen, um nicht auch eine Menge fragende bis gelangweilte Gesichter zu provozieren und von denen gab es am Ende trotz eifrigen Klatschens in den Pausen und den Rufen der ersten Reihen nach Zugaben einige. Besonders das Instrumental "Aerophobic" an achter Stelle der Setlist trennte deutlich die Spreu vom Weizen, man vergleiche nur den kalten Elektro-Beginn mit den warmen Streichern, wie sie sich im Intro von "Back To Times Of Splendor" zeigen. Überhaupt entfacht letztgenannter Song live eine ähnlich bombastische, epische Atmosphäre wie auch auf dem Album, während die beklemmende Düsternis, die das Album "Gloria" kennzeichnet, live nicht adäquat reproduziert werden kann, zumindest nicht an diesem Abend. Hier ist auf jeden Fall noch eine Menge Annäherungsarbeit gefragt, bis sich Band und Publikum aufeinander abgestimmt haben. Nach ca. 110 Minuten bzw. dem Rauswerfer "Don't Go Any Further", diesmal nicht vom Band, sondern von der Band, muss ich deswegen auf dem Heimweg feststellen, dass dies der erste der acht, neun bisher mit meiner Anwesenheit abgelaufenen DISILLUSION-Gigs ist, von dem ich mit einem unbestimmten Gefühl nach Hause marschiere, gewohnt begeistert, aber auch ungewohnt verstört. Doch vielleicht ist das schon wieder ein Kompliment.

Setlist:
1. The Black Sea
2. Save The Past
3. Alone I Stand In Fires
4. Avalanche
5. Dread It
6. Lava
7. The Porter
8. Aerophobic
9. The Hole We Are In
10. Too Many Broken Cease Fires
11. Gloria
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12. And The Mirror Cracked
13. Back To Times Of Splendor
14. Untiefen
15. Don't Go Any Further



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