www.Crossover-agm.de U-Bahnkontrollöre in tiefgefrorenen Frauenkleidern   03.05.2006   Leipzig, Moritzbastei
von rls

"Hardcore a cappella" nennt diese Truppe ihr musikalisches Gebräu. Damit ist zunächst erst einmal legitimiert, warum sie auf dem A-Cappella-Festival in Leipzig auftreten darf (über die wenigen dann doch instrumental begeliteten Passagen darf man bei der Einsortierung großzügig hinwegsehen), und zugleich eine falsche Fährte gelegt: Sollte jemand tatsächlich auf uninstrumentierte Umsetzungen von alten Agnostic Front-, Sick Of It All-, Cro-Mags- oder Biohazard-Kloppern gehofft haben, so wurde er, wenn ich mich nicht verhört habe (ich muß zugeben, nicht alle Stücke im Set erkannt zu haben), nicht fündig. Aber ansonsten gab es im Prinzip nahezu kein Genre, das vor der Verwurstungswut des Quintetts sicher gewesen wäre. Kurz nach 21 Uhr betraten die fünf, in Mönchsgewänder gehüllt, die Bühne, intonierten einen gregorianischen Gesang, der dem von Blind Guardians "Inquisition"-Intro ähnelte, schwenkten dann aber nicht in "Banish From Sanctuary" über, sondern vielmehr in Johnny Cashs "Ring Of Fire", wozu Zentralfigur Sebastian seine Kutte von sich warf und darunter ein rosa Cowboyoutfit zum Vorschein kam, mit dem er die Aufnahmeprüfung bei J.B.O. vermutlich im ersten Anlauf bestanden hätte. Zum Verständnis muß festgehalten werden, daß die fünf Hessen nicht etwa reine Chorsätze aus den Vorlagen zauberten, sondern auch die Rhythmusinstrumente, Gitarren- und Keyboardlinien und all das, was in den Originalen sonst noch so zum Vorschein kommt, allein durch Stimmakrobatik umsetzten, und das taten sie mit großer Meisterschaft, egal ob sie nun gerade einen Popsong, ein Jazzstück, etwas Volksmusikartiges oder was-weiß-ich-noch umsetzten; blitzartig eingeflochtene Elemente anderer Songs taten ein übriges hinzu. In puncto Leadgesang wechselten sich die Hessen ab, hatten einen umfangreichen Kostümfundus dabei (wie das aussah, als Karel Gotts unsterbliche "Biene Maja" angestimmt wurde, kann sich jeder Leser vor seinem geistigen Auge ausmalen) und waren optisch ähnlich inhomogen und doch wieder zusammenpassend zusammengesetzt, wie das auch auf ihre Musik zutraf: ein Metalhead, ein Kandidat für den Einstieg bei Rammstein, ein Pendant zu Münchener Freiheit-Trommler Rennie Hatzke, ein Flamencospieler und eine Hälfte der Wildecker Herzbuben. Daß die seit 15 Jahren in unveränderter Besetzung agierende Truppe bedarfsweise auch das ernsthafte Fach beherrscht, bewies sie mit dem italienischen Partisanenlied "Bella Ciao", bei dem sie die einzelnen Strophen in den verschiedenen Sprachen intonierte, in denen es den Text mittlerweile gibt. Ansonsten regierte aber König Humor, mitunter kurz vor der Grenze zur Debilität (für die Hessen scheinbar besonders anfällig sind, wie man an A.O.K. sieht), mitunter diese auch mal überschreitend (was manche der Ansagen oder auch die neuen deutschen Texte zu diversen englischsprachigen Songs angeht), aber meist gekonnt an ihr entlanglavierend. Schade nur, daß Queens "Bohemian Rhapsody" zwar angesungen, aber nicht fortgesetzt wurde - hätte doch zu gerne gewußt, ob die Hessen der grenzgenialen Version von Mnozil Brass (siehe Livereview vom 13.10.2004) etwas Adäquates entgegensetzen könnten. Dafür durfte das Publikum seine Sangesqualitäten beweisen und zur Melodie von "Guantanamera" mantraartig den Text "Ein schönes Mädchen - es gibt nur ein schönes Mädchen" intonieren, eingebettet in den Song mit dem wohl kultigsten Titel des ganzen Abends: "Das schöne Mädchen mit der ähnlichen Frisur wie Christian Ziege", entstanden im WM-Jahr 2002 und daher natürlich auch im WM-Jahr 2006 prädestiniert für die Darbietung im Konzertprogramm. Die ausverkaufte große Tonne der Moritzbastei (in der übrigens zur Schonung der Stimmbänder der Sänger und auch zur Freude des Rezensenten Rauchverbot herrschte) gab sich mit dem regulären Programm natürlich nicht zufrieden und wurde mit einem großen Medley als Hauptzugabe belohnt, in welchem die verwursteten Songs meist nur mit einer Strophe vertreten waren und dann schon wieder vom nächsten Thema abgelöst wurden, wobei jedesmal ein anerkennender Jubel durchs Publikum brandete, wenn man den neuen Song erkannt hatte (warum hat eigentlich keiner gejubelt, als gleich zu Anfang der Foreigner-Klassiker "Juke Box Hero" kam? Kennt den in Leipzig keiner mehr?). Das Finale wurde wie das Intro dann wieder sakral, indem man den Gospelklassiker "Amen" verwurstete, wobei das Publikum vom "Heiligen Sebastian" nochmals zum ausgiebigen Mitsingen animiert wurde. Und falls sich seit Beginn des Reviews jemand gefragt haben sollte, was bitteschön denn der auffällige Bandname zu bedeuten hat, hier die Antwort: Im Prinzip nichts - er fand sich in den Texten irgendeiner LP, die zufällig im Raum lag, als die Truppe in ihrer Embryonalzeit zusammensaß und wegen des bevorstehenden ersten Auftrittes schnell einen Namen finden mußte. So einfach geht das manchmal (Rockhistoriker erinnern sich an die Spontanumbenennung von Roundabout in Deep Purple anno 1968 auf einer Schiffsfahrt von England nach Dänemark, als Ritchie Blackmore in einem Interview als neuen Namen der Band kurzerhand den Lieblingssong seiner Oma, eben "Deep Purple", nannte).



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