www.Crossover-agm.de The Musical Box   29.01.2006   Chemnitz, Stadthalle
von rls

In einer musikalischen Kiste kann ja alles mögliche drin sein, Gutes und weniger Gutes. Die Kiste, welche die gleichnamige Band seit nunmehr ca. 15 Jahren öffnet, enthält jedenfalls hochinteressantes Material, nämlich solches aus dem Fundus von Genesis. Die kanadische Band hat sich daran gemacht, nicht einfach nur als Coverband der frühen Genesis bis zum Ausstieg Peter Gabriels zu agieren, sondern zumindest in rezenterer Zeit noch konsequenter an der Umsetzung der historischen Vorlagen zu arbeiten: Man spielt die kompletten Sets der damaligen Genesis-Touren originalgetreu nach. Der schwierigste Fall dabei war wohl die "The Lamb Lies Down On Broadway"-Tour von 1974/75, für damalige Verhältnisse eine gigantische Materialschlacht, die nur ein Problem offenbarte: Sie war seinerzeit nie richtig auf Konserve gebannt worden, weder visuell noch audioseitig. Folglich bedurfte es einer immensen Puzzlearbeit, um die Rekonstruktion bewältigen zu können. Das Ergebnis gab es nun Anfang 2006 zum (vorläufig?) letzten Male in Europa zu bestaunen, und gleich vier CrossOver-Redakteure nutzten die Gelegenheit, ihre ganz speziellen Eindrücke von drei Shows (neben Chemnitz noch Georg aus Mannheim sowie Thomas und Tobias aus Halle) festzuhalten. In Chemnitz war die Stadthalle etwas weniger gefüllt als ein knappes Vierteljahr zuvor bei den Pink Floyd-Coverern The Machine. Der Rezensent ist aus biologischen Gründen auf der originalen "Lamb"-Tour nicht dabeigewesen, da diese anderthalb Jahre vor seiner Geburt stattfand, und er gehört auch nicht zu den Genesis-Die Hard-Sammlern, die den Mangel an einem offiziellen Mitschnitt dieser Tour durch den Besitz von mindestens 23 Bootlegs kompensieren. In puncto Authenzität kann er sich also nur ein eingeschränktes Urteil erlauben.
Bis zu Peter Gabriels Ausstieg, der Phil Collins vom Drummer zum Leadsänger katapultierte, hatten Genesis aus fünf Mitgliedern bestanden, so auch auf der "Lamb"-Tour und so logischerweise auch bei The Musical Box: Steve Hackett (ich setze im Review zum einfacheren Verständnis kurzerhand wieder die Namen der Originalmusiker ein) sitzt links auf einem hockerartigen Etwas und bewegt sich nur, wenn er mal die Gitarre wechselt. Rechts neben ihm steht Mike Rutherford auf einem Podest, so daß man seinen legendären Zwölfsaiter nicht nur gut hört (das Ding ist so gestimmt, daß es teilweise eher an eine Harfe als an ein zur Familie der Gitarren gehöriges Instrument erinnert), sondern auch gut sieht. Phil Collins versteckt sich nicht ganz hinten auf der Bühne, wie das bei einem Drummer meist der Fall ist, sondern hat sein fast einen Vollkreis ausmachendes Instrument (im Hintergrund hängen noch Glockenspiele und ähnliche Sonderzutaten) auf gleicher Höhe wie Rutherfords Podest stehen. Rechts außen schließlich hat Tony Banks seine Keyboardstaffel im 90-Grad-Winkel angeordnet. Tja, und dann wäre da noch Peter Gabriel: Der quirlige Sänger hat bestimmte Fixpunkte auf der Bühne, wo er sich häufiger als sonst aufhält und auch speziell angeleuchtet werden kann, wenn es die Handlung bedingt - ansonsten ist er aber gern unterwegs und überhaupt der einzige, der für Bewegung auf der Bühne sorgt (lediglich Rutherford steigt ein einziges Mal von seinem Podest herab, läuft nach rechts und spielt mit den dort residierenden Banks und Collins einen frickeligen Instrumentalpart zu dritt - Kaffeesatzleser entdecken hier natürlich sofort einen Hinweis auf die spätere Triobesetzung von Genesis in genau jener Konstellation, an die allerdings drei Jahre vor ihrem Zustandekommen noch nicht zu denken gewesen ist). Dazu springt er immer mal in die verschiedensten Kostüme vom aus dem Ei schlüpfenden jungen Wesen bis hin zur medienumflirrten Litfaßsäule, um so die Story des Albums "The Lamb Lies Down On Broadway" auch schauspielerisch zu illustrieren. In ihren letzten Zügen wird sich diese Story (deren Zauberwort vermutlich "urbane Prägung bzw. Desorientierung des Menschen" heißt) vermutlich nur einem einzigen Menschen erschlossen haben, nämlich Gabriel selbst - bei den deutschen Zuschauern kommt als Verständnisschwierigkeit noch die Sprachbarriere hinzu, die Gabriel auch durch seine ausführlichen Ansage-Erklärungen nur bedingt zu beheben vermag. Und auch die 1120 Dias, die während der Show in Dreierblöcken an die Hallenrückwand projiziert werden (The Musical Box durften als einzige Band die Originaldias aus den Genesis-Beständen benutzen), werfen eher neue Fragen auf, als daß sie andere beantworten: Ist es (vor dem Hintergrund, daß Genesis eine sehr präzise arbeitende Band waren) beispielsweise Zufall, daß die in einer ganzen Diafolge zu sehenden Buchstaben "it" ihre aus verschiedenen grafischen Elementen bestehende farbige Füllung im jeweils linken Dia exakt an der Buchstabenaußenkante abschneiden, im mittleren und rechten Dia aber geringfügig darüber hinausragen lassen? Wenn es kein Zufall ist, was bedeutet es dann? Und so weiter und so fort - man könnte vermutlich ganze Bücher verfassen. Als Nachdenkeaspekt dabei ist auch der technische Fortschritt seit 1974/75 einbeziehenswert: Lichtshow, Bühnenbild, Kostüme, Effekte und Dias waren damals so teuer, daß die komplette Tour einen immensen finanziellen Verlust einbrachte - nach heutigen Maßstäben dagegen wirken speziell die Beleuchtung, das Bühnenbild und die Effekte fast spartanisch; erst- und letztgenannte müssen logischerweise auch zurückstehen, weil man ja sonst nichts von den Dias sehen würde.
Zurück zur Musik: Die besteht im Hauptset aus dem kompletten "The Lamb Lies Down On Broadway"-Doppelalbum (welche Band kann es sich schon erlauben, ein solches neues Album komplett zu bringen und die eigenen Klassiker mit dem Schattenplatz im Zugabenteil abzuspeisen oder ganz rauszuwerfen?) und bedarf für dessen Besitzer also keiner weiteren Erläuterung. Beim genauen Hinhören fällt auf, daß Genesis von den großen Progbands der Siebziger wohl diejenige war, die die wenigsten Querverweise zur klassischen Musik eingebaut hat (wenn man Rutherfords Saitensound mal nicht als diesbezügliches Element wertet) - nur einmal intoniert Banks ein barock anmutendes Thema, und Gabriels Querflöteneinsätze bleiben selten, zumal der Mann ja noch mehr auf der Bühne zu tun hat als Jethro Tull-Kollege Ian Anderson. Und noch eine Kuriosität fällt auf: Eine normale Rockband spielt in voller Besetzung laut und wird nur dann leiser, wenn meinetwegen ein halbakustischer Part kommt. The Musical Box indessen setzen die Lautstärke als weiteres Gestaltungsmittel ein, variieren also auch die Phonzahl der instrumentenseitig eigentlich gleichgearteten Passagen je nach gerade anstehender Storyaussage (wobei natürlich auch die Möglichkeit besteht, daß dieses Phänomen eine simple Notwendigkeit der Technikfraktion angehörs der Soundverhältnisse in der Stadthalle war, wenngleich die Wahrscheinlichkeit für diese These eher gering ist, denn wenn man in mittlerer Lautstärke schon einen schönen klaren Rocksound hinbekommt, gibt es eigentlich keine rationale Notwendigkeit, die Regler später für kurze Phasen so weit nach oben zu drehen, daß einem selbst in der letzten Reihe noch die Ohren klingeln). Über die technischen Fähigkeiten der Musiker (sowohl der originalen wie der hier umsetzenden) muß man sicherlich keine Worte mehr verlieren, Collins singt hervorragende Backings, die seine spätere Beförderung zum Leadsänger rechtfertigen, und Gabriels Ansagen kommen nicht so flüssig wie eine einstudierte Rede daher, obwohl es sich zumindest über weite Strecken um eine solche gehandelt haben dürfte.
Bleiben die Zugaben: Hier haben Genesis damals auf der Tour zwischen "The Musical Box", "Watcher Of The Skies" und "The Knife" rotiert. Erstgenannter Song dürfte bei dem gewählten Bandnamen der Imitatoren vermutlich gesetzt sein, wie man von The Machine ja eigentlich auch automatisch die Umsetzung von "Welcome To The Machine" erwartet. In Chemnitz gibt's als zweite Zugabe dann noch "Watcher Of The Skies", und nach knapp zweieinhalb Stunden endet eine Zeitreise in die Vergangenheit, die indes die wenigsten Zuhörer an eigene Liveerlebnisse zurückgeführt haben dürfte, da Genesis damals nicht in der DDR gastiert hatten. Der allgemein guten Laune tat das keinen Abbruch, und 2007 gibt es noch eine letzte Gelegenheit, mit The Musical Box in die Genesis-Vergangenheit zu reisen, wenn die "Selling England By The Pound"-Tour in Deutschland noch einmal aufersteht.



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