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The Musical Box   28.01.2006   Halle, Händelhalle
von ta

Da liegt ja ein gewisser Witz drin. Eine Band zieht durch die Lande und versucht sich im Wesentlichen an Einem: Dem hundertprozentigen Kopieren von Musik und Auftreten einer anderen Band, die gut dreißig Jahre vorher durch die Lande gezogen ist. Ein Rezensent geht auf ein Konzertereignis im Rahmen des Zugs der kopierenden Band - ein Rezensent, welcher zu der Zeit, in der die kopierte Band durch die Lande zog, noch gar nicht geboren war und demnach die kopierende Band nach allen möglichen Maßstäben bewerten kann, nur nicht nach dem, der für die kopierende Band am wichtigsten ist, nämlich dem Gelingen oder Nicht-Gelingen einer originalgetreuen Kopie. Aber sei's drum.
Was ging also vor sich an jenem Abend des Januar 2006, in der Händelhalle in Halle? Kopiert wurden Genesis' "Lamb Lies Down ..."-Shows aus der Mitte der Siebziger, gespielt wurde also das entsprechende Album in seiner ganzen Vollständigkeit nebst einigen Zugaben. Das Erscheinungsbild der Band auf der Bühne ist hierbei erst einmal zu 4/5teln auf die Musik als Mittelpunkt abgestimmt: Francois Gagnon besetzt den Barhocker am linken Bühnenrand, wirft keine nennenswerten Blicke ins Publikum und ist ganz in sein Gitarrenspiel vertieft. Bassist und Zwölfsaitengitarrist Sébastien Lamothe groovt daneben vor sich hin, allerdings stehend. Gut Grooven hat er übrigens, denn sein Bassound ist monströs. Mindestens die gesamte erste Hälfte des Konzerts sind die tiefen Frequenzen derartig dominant, dass jegliche Ausgewogenheit im Klangbild ein schöner Traum bleibt. Das ist Musik, die in den Magen geht! Aber vielleicht war das 1974 ja genauso, wer weiß das schon. Hinter seinen Kesseln hockt Martin Levac und kommt mit der Doppelbelastung Drums/Gesang problemlos klar. Die hohe Zweitstimme sitzt und erinnert tatsächlich etwas an Phil Collins, allerdings wäre mir neu, dass dieser ein Linkshänder war. Ergo einen Punkt Abzug auf der Authentizitätsstrichliste. (Sollte ich falsch liegen, ist also auch Phil Collins Linkshänder, gibt es natürlich stattdessen gleich zwei Authentizitätspunkte obenauf für erhöhten Arbeitsaufwand bei der Schlagzeugersuche.) Fehlt noch Musikus Nr. 4, David Myers. Der thront zwischen seinen siebenhundert Keyboards wie ein König, verhält sich allerdings, mal ganz unabhängig von der beeindruckenden Synthie-Burg betrachtet, unauffällig und bedient damit wie der ganze Rest - abgesehen von Sänger Denis Gagné - das Klischee vom introvertierten Prog Rocker. Und damit ist man bereits beim optischen Mittelpunkt des ganzen Szenarios: Gagné. Der rennt über die Bühne, zieht sich aus, zieht sich wieder an, zieht sich um, zieht umher, singt durch dieses, singt in jenes Mikro, steht, sitzt, liegt, kniet, kreiselt, hüpft und bläst die Querflöte, leider nicht hüpfend. Trotzdem fein anzusehen und meistens auch -zuhören. Meistens, weil anfangs der Meister tatsächlich noch etwas schwach auf der Brust ist, sich aber im Laufe der Show zu einer phänomenalen Leistung steigert, die Peter Gabriel, nun, nicht unbedingt alle, aber zumindest viel Ehre macht. Allerdings, das sei ketzerisch angemerkt, kann Gagné auch das Timbre eines Phil Collins nicht abgesprochen werden. Witzig sind die ausgefallenen Ansagen. Nachdem vier Songs am Stück gekommen sind, plaudert der Mann mit der hohen Stimme plötzlich ohne nennenswerte Pausen in einem Kauderwelschenglisch sondersgleichen drauflos, imitiert hierbei wechselnde Charaktere und verbringt damit problemlos die Zeit, in die ein weiterer Song gepasst hätte oder eine Zigarettenpause passt. Noch witziger: Kaum ein Mensch im Saal versteht offenbar die Pointen der Erzählungen, zumindest herrscht die ganze Zeit, welche die Ansagen einnehmen, Totenstille im Auditorium, lediglich die deutschen Versatzstücke werden mit zögerndem Applaus bedacht. Bejubelt werden natürlich die Klassiker des "Lamb Lies Down ..."-Albums, wobei mit "Lamb ..." selbst und "In The Cage" zwei der verdientesten gleich ganz am Anfang stehen. Aber selbst als im letzten Drittel des Sets die langen Instrumentalparts erklingen, von denen man nicht zwingend sagen muss, dass in ihnen viel passiert, bleibt die Spannung beim Publikum ungebrochen, wie der begeisterte Beifall nach jedem Stück belegt. Das mag auch an der halluzinogenen Wirkung der Videoprojektionen liegen. Da flimmern allerlei Bilder von seltsamen Schnecken und undurchschaubaren bunten Prismen über düstere s/w-Photographien bis hin zu Courbets "Ursprung der Welt" über die Leinwand und entwerfen einen ganz eigenen Kosmos der Visionen. Als visuell stimulierend stechen natürlich auch die grandiose Lichtshow und die vielfältige, skurrile Kostümierung des Sängers hervor. Besonders der Tanz in einem Martinslaternen-ähnlichen Papiergebilde gehört zu den Merkwürdigkeiten dieses Abends, die des Merkens tatsächlich würdig sind. Und vermutlich war der banausige Rezensent die einzige Person im Raum, die gegen Ende dann eben doch auf den Schlusspfiff gewartet hat. Gerade das Instrumentalgeflimmer ist nach dreißig Jahren eben für Nicht-Eingeweihte nur noch bedingt außerhalb seines historischen Kontextes in voller Länge konzentriert genießbar. Und der Nostalgiebonus? Aber das hatten wir ja schon. Als im Zugabenblock mit "The Musical Box" (natürlich) und "Watcher Of The Skies" (auch natürlich, aber aus anderen Gründen) noch zwei echte Pfunde an klassischer Prog-Rock-History geliefert werden, sind ohnehin alle glücklich. Fazit: Gute Kopie. Und das nicht mal nur deswegen, weil sie eben Kopie ist.



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