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DE KRIPPELKIEFERN: Live im Schwarzenberger Lokschuppen
von rls

DE KRIPPELKIEFERN: Live im Schwarzenberger Lokschuppen   (Eigenproduktion)

So, das ist er. Der Beweis für die Inkorrektheit des Labeling der Krippelkiefern-Kompositionen als "Lieder, die keiner mag". Wäre dem so, hätte das Quartett samt seiner Gastmusikerlegion am 21. Juli 2007 im Lokschuppen zu Schwarzenberg/Erzgebirge (auch überregional bekannt durch Stefan Heyms Buch "Schwarzenberg" - diese kleine erzgebirgische Stadt und ihre Umgebung war nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten für sechs Wochen vergessen worden zu besetzen, und es entspann sich ein höchst interessantes und originelles Geschehen, wie die Bevölkerung die Befreiung vom nationalsozialistischen Ungeist selbst in die Hand nahm) nämlich vor einem leeren Zuschauerraum spielen müssen, und die vorliegende DVD beweist eindeutig, daß dem nicht so war. Und siehe da - der Stempel auf dem gestalterisch an die letzte CD "Schlimmer giehts immer" angelehnten DVD-Cover läßt den eingangs zitierten Spruch denn auch weg und beschränkt sich auf "Die erfolgreichsten Krippelkiefern - DAS ORIGINAL aus dem Erzgebirge". Die direkte Konnotation zwischen Album und DVD manifestiert sich darin, daß zwölf der sechzehn im Konzertmitschnitt verewigten Kompositionen vom besagten Album stammen, und wer selbiges besitzt oder nochmal schnell in die auf diesen Seiten zu findende Rezension hinübergelinst hat, weiß, daß das die komplette CD ist. Der Einfachheit halber steht sie auch gleich noch fast durchgängig in der CD-Reihenfolge im Liveset, lediglich "Win dr Betrieger" hat sich um zwei Positionen nach vorne geschoben. Von den vier anderen Kompositionen bilden drei einen Block gleich zu Beginn, und so schmuggelt sich lediglich "Hutzenstübelmadl", ein Oldie aus Debützeiten der Band, noch zwischen die zwölf "Schlimmer"-Songs. Bis man zu dieser Erkenntnis vorgedrungen ist, muß man sich allerdings schon die komplette DVD angeschaut haben, denn eine Tracklist enthält uns das Quartett auf der Rückseite vor, auch ein Booklet glänzt durch Nichtexistenz. Aber sei's drum: Humor beweist die Truppe bekanntermaßen sehr häufig, was schon im DVD-Intro losgeht, das man sich wahlweise in Erzgebirgisch oder Deutsch anschauen kann - zwei Damen pseudonymens Trixi und Biggi (erstgenannte von Romy Sadler gespielt, die ansonsten über den Eigenverlag die strukturellen Geschicke der Band lenkt) entdecken eine Zeitungsmeldung über die DVD-Aktivitäten der Krippelkiefern. Hernach kann man in den morbiden Charme des Lokschuppens eintauchen und bekommt anstelle eines Showintros zunächst noch einen Zauberkünstler mit Konserventon zu sehen und zu hören, der als klassische Pierrot-Figur mit Stelzen oder Feuer hantiert und sich pantomimisch betätigt. Den eigentlichen Konzertopener "Es will sich der Mensch nicht mit der Liebe abgeben" bestreitet Stefan "Sterni" Mösch noch im Alleingang mit Gitarre und Stimme - es bleibt der einzige hochdeutsche Track im Programm. Danach wird die Band schrittweise immer voluminöser. "Seit ich arbitslus bi" entpuppt sich als strukturell bösartige Antwort auf das "Tschechei"-Lied der Randfichten, und das stellt in deren Repertoire schon den Gipfel der strukturellen Bösartigkeit dar. Das Publikum singt und klatscht nichtsdestotrotz fleißig mit, Gitarrist Torsten Lang ist dazugestoßen, ab dem zweiten Refrain setzen auch Bassist Tobias Horn und Drummer Stefan Heppner ein, womit die vierköpfige Basisbesetzung erstmal komplett aktiv ist - sie wird aber im weiteren Verlaufe des Sets Unterstützung durch bis zu acht weitere Musiker bekommen, wobei sich das Übervorteilen von Viertgitarrist Frank Bucher schon fast zum Running Gag entwickelt: Hatte man ihn auf der "Schlimmer"-CD falsch geschrieben, so vergißt man ihn hier in der Gastmusikerliste gleich ganz. (Neben Torsten und gelegentlich Sterni spielt als weiterer Gitarrist noch Thomas Karl eine Gastrolle.) In Track 3 legt Sterni seine Gitarre erstmal zur Seite - "Glück Auf Regina" gibt die Homepagetracklist als Titel aus, auf der "Singel"-CD schrieb er sich aber noch "Glück auf Reggi". Jedenfalls klingt er so, wie er heißt, nämlich wie Reggae aus dem Mutterland dieser Stilistik, dem Erzgebirge, sein herrlich pseudophilosophischer Text ist höchst bemerkenswert, und auch auf die sehr hohen Backingvocals von Stefan Heppner, der bei weiterem Wachstum seines Backenbartes fast als erzgebirgische Antwort auf Ian Paice durchgehen würde, sei hingewiesen. (Wenn wir grade bei optischer Betrachtung sind: Sieht Sterni im Opener nicht ein bissel aus wie Karl Marx? Philosophische Weisheiten wie "Geteiltes Bier ist halbes Bier" nähren solche Parallelen noch zusätzlich.) Danach beginnt wie erwähnt der "Schlimmer giehts immer"-Block mit dem Titeltrack, in dem erstmals die elektrischen Gitarren ausgepackt werden. In "Gemeinsam leiden" holen sich De Krippelkiefern weitere Verstärkung für die Running Wild-artigen Chöre, die mal mehr, mal weniger schräg durch den Lokschuppen hallen. Danach wird's avantgardistisch: Ein instrumentales "Industrial"-Stück der Marke "Einstürzende Neubauten auf melodisch" erklingt (mit Instrumenten wie Amboß, Fässern etc.) und leitet über zu "De Liedlschmied zu Johannstadt". "Fidiralala" deutet die im Text kurz eingeworfene Heavyband nur kurz an, stellt aber dem stoisch daherblickenden, jedoch enthusiastisch spielenden Norman Giolbas mit seiner Hammondorgel weiterhin viel akustischen Raum zur Verfügung (besonders schön zu sehen und zu hören im Gitarre-Keyboard-Duell kurze Zeit später, nachdem man mit The Sweet-artigen Backingchören einen weiteren Verweis in die Musikgeschichte entdeckt hat). "Win dr Betrieger" stellt ein weiteres Mal die Liebe der Band zum Altrock unter Beweis, denn es wird mit ausgedehnten Instrumentalsoli aufgebrochen und erweitert, an denen Igor Flach mit seiner Mundharmonika einen entscheidenden Anteil hat. Er bekommt dementsprechend Szenenapplaus - achteinhalb Monate später aber ist er nicht mehr am Leben, und es mutet geradezu paradox an, daß er seine strukturell zentralste Rolle eben gerade in diesem Song spielte, der gleichfalls mit dem Tod des Protagonisten endet. Danach bricht sich wieder die Avantgarde Bahn, und zwar in Gestalt eines Metalldidgeridoos in Alphorngröße und mit blau leuchtendem Trichter, der an ein Abflußrohr erinnert - ergänzt durch ein zweites, kleineres aus Holz leitet man über in das betrübliche Intro zu "32. Mai", das ohne Sterni auskommt, bald ins Locker-Flockige umschlägt und neben Torsten die bezaubernde Katharina Graf ans Mikro holt. Auch hier darf Norman wieder ein langes Hammondsolo einstreuen, und damit endet der erste Teil des Sets.
Zu Beginn des zweiten Setteils ist es draußen mittlerweile dunkel geworden, so daß eine Art Schattentheater oder Gegenlichtperformance in den Fenstern hinter der Bühne stattfinden kann, bevor alle Musiker schrittweise wieder die Bühne entern. Über das "Trinklied" und gewohnt abwegige Ansagen wie die Bekanntgabe, daß das Erzgebirge und Libyen ja schon traditionell gute Beziehungen gepflegt hätten, so daß heute sogar der stellvertretende libysche Außenminister im Publikum sei (selbstverständlich inkognito), erreicht man das "Schlachtfast in Markersbach", mit Tenortuba und Akkordeon ausgeschmückt und nicht mal vor einer Polonaise quer durch den "Saal" haltmachend, zudem den erstaunlichen Beweis antretend, daß der sonst so stoische Norman sogar grinsen kann. "Hutzenstübelmadl" unterbricht wie erwähnt die Folge der Songs vom neuen Album, stört aber keineswegs - im Gegenteil: Dieser gekonnte "Erzgebirgsblues" nimmt nach langsamem Beginn richtig Fahrt auf und wächst zum ekstatischen Musizierschwall im Hauptsolo an, wozu auch wieder Igor sein Scherflein beiträgt. Die Aufforderung "Schunkelt, bis es dunkelt" wird beim folgenden "Gimmer mol nieber zim Schmied" vom Publikum in die Realität umgesetzt, vorm letzten Refrain gar in Zeitlupe - herrlich konterkarierend zur scheinbar guten Stimmung: die klasse gespielte gesellschaftliche Stigmatisierung. Noch einmal kommt die Avantgarde zum Vorschein - Wasseroberflächenpercussion bekommt man auch nicht allerorten zu sehen und zu hören, hier aber sehr wohl, und daraus entsteht der Song, den De Krippelkiefern wohl ab sofort bis an ihr Bandexistenzende auf jedem Konzert spielen werden müssen: "Heit Ohmd besauf ich mich allaa". Sterni hat das offenbar wörtlich genommen und wirkt hier nicht mit, dafür sorgen die Chöre wieder für die gewünschte Paradoxonskette zum Titel, vor der Bühne herrscht Tanz, und Katharina greift sogar zur Flüstertüte. Der Schluß des Sets wird weihnachtlich (die Musiker sind stolz, dieses Jahr die ersten damit zu sein - man vergegenwärtige sich noch einmal das Konzertdatum), zunächst mit "Tango Argentino" (O-Ton: "Ein erzgebirgisches Weihnachtslied aus Argentinien") und schlußendlich mit "Klaanes Weihnachtslied", in dem Katharina trotz des bitteren Textes so schöne Engelsvokalisen einstreut, daß man sie am liebsten herzen möchte. Das Publikum hält während der ganzen Show einen hohen Stimmungspegel aufrecht, und erst der Abspann erdet den Betrachter der DVD mit einem Nachruf auf Igor wieder.
Noch ein Blick auf die Extras: Die Szenenauswahl mit sechs anwählbaren Punkten ist eher als Spielerei zu betrachten und der Trailer für den parodistischen Actionfilm "Das Haus der lebenden Gardinen" unter Ulk zu verbuchen. Hernach gibt es aber noch unter dem Titel "Das Wort zum Sonntag - ein unmusikalischer Frühschoppen" (oder wahlweise "Krikistische Diskussionsrunde") eine 20minütige, durchaus ernstzunehmende Unterhaltung innerhalb der Kernbesetzung der Band über Wurzeln (DDR-Blues-Liveszene!), Anspruch, Herangehensweise, Kritiken etc. Daß auch dieser Programmpunkt nicht zu ernst ausfällt, dafür sorgt allerdings die Dekoration des Raumes, in dem die Musiker sitzen, denn dort befindet sich ein Nußknacker friedlich neben einem Wimpel "Kollektiv der sozialistischen Arbeit". Dieses Detail rundet das gelungene zweistündige Dokument einer der paradoxesten Bands der heutigen Tage perfekt ab, das vielleicht auch jenseits der Sprachbarriere etwas für die Popularität der Formation bewirken könnte.
Kontakt: www.dekrippelkiefern.de, www.verlag-krippelkiefer.com

Tracklist:
Es will sich der Mensch nicht mit der Liebe abgeben
Seit ich arbitslus bi
Glück auf Regina
Schlimmer giehts immer
Gemeinsam leiden
De Liedelschmied zu Johannstadt
Fidiralala
Win dr Betrieger
32. Mai
Trinklied
Schlachtfast in Markersbach
Hutzenstübelmadl
Gimmer mol nieber zim Schmied
Heit Ohmd besauf ich mich allaa
Tango Argentino
Klaanes Weihnachtslied
Bonus: Krikistische Diskussionsrunde


 



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