www.Crossover-agm.de DIANOYA: Lidocaine
von rls

DIANOYA: Lidocaine   (Eigenproduktion/Mystic Prod.)

"Obscurity Divine", das Dianoya-Debüt, konnte bei Kollegin Silvia das Prädikat "großartiges Album" ernten, und wenn man's kurz machen wollte, so könnte man die Abhandlung des Nachfolgers "Lidocaine" auf die gleichen Worte beschränken. Aber ganz so einfach machen wollen wir uns das Ganze dann doch nicht. Dianoya sind stilistisch jedenfalls immer noch in der Düsterprogrichtung zu verorten und lagern irgendwo zwischen jüngeren Anathema und ihren Landsleuten Riverside, mit welchletzteren sie auch schon auf Tour waren, und es dürfte kein Zufall sein, daß mit Piotr Kozieradski, dem Schlagzeuger, auch ein Riverside-Mitglied in der im Digipackinneren zu lesenden Dankesliste auftaucht. Komme nun allerdings niemand und vermute einen Kopismus der noch relativ jungen Polen an ihren populären Vorbildern! Natürlich gibt es Parallelen zu vermelden, so die grundsätzliche stilistische Beheimatung, das gekonnte Akustik-Elektrik-Wechselspiel oder auch der sehnsuchtsvolle Gesang Filip Zielinskis - aber über jenen sollen die Unterschiede nicht vergessen werden: Zielinski hat eine etwas heller gefärbte Stimme als Mariusz Duda, und zudem spielt er parallel auch kein Instrument, so daß bei jeweils Quartettbesetzung Dianoya einen Instrumentalisten weniger haben, und das betrifft in ihrem Fall die Planstelle des Keyboarders, die unbesetzt bleibt. Ergo spielt das Keyboard auch im Songwriting keine primäre Rolle, und wenn es zur Klangfarbenvermehrung oder zur puren Atmosphäreerzeugung (etwa für den wabernden Hintergrund von "1000 g" oder für den psychotischen Hintergrund von "21st Century" bei Minute 4) doch mal eingesetzt wird, dann übernimmt Bassist Artur Radkiewicz (Neuzugang für dieses Album) zumindest im Studio diesen Job gleich mit - ob Dianoya dann live drauf verzichten oder diese Parts vom Band holen, können nur die Privilegierten entscheiden, die die Warschauer schon mal live erlebt haben, und zu denen gehört der Rezensent leider nicht. Auffällig im Vergleich mit dem Debütalbum ist allerdings, daß die Polen ihre Songs diesmal ein gutes Stück kompakter inszenieren: Standen dort noch gleich drei Songs im Zehnminutenumfeld, so bringt es "Nothing In Return" als längster Beitrag auf "Lidocaine" gerade mal auf siebeneinhalb Minuten. Freilich hat man so gut wie nirgendwo das Gefühl, eine Songidee sei irgendwie amputiert oder nicht bis zu Ende ausgearbeitet worden - die Ausnahme bildet das abschließende, nur knapp anderthalbminütige Instrumental "Venid", bei dem man irgendwie etwas unglücklich dreinschaut, daß sein interessantes Hauptthema nicht zu einem "vollwertigen" Song ausgearbeitet worden ist. Aber das geht hier als Jammern auf hohem Niveau durch, ebenso der Fakt, daß "Lidocaine" keine herausragenden Einzelsongs aufweist und eher als 55minütiges Gesamtkunstwerk gehört werden sollte. Die Tradition atmosphärischer Instrumentalinterludien, die man vom Debüt her kennt, haben Dianoya ebenfalls beibehalten und in die Albummitte einen Zweiminüter namens "Figaro Song" gesetzt. Wer die gängigen Friseuropern von Mozart und Rossini (und die unbekannteren Vertonungen) komplett auswendig kennt, kann nachprüfen, ob Gitarrist Jan Niedzielski das eine oder andere Motiv übernommen hat - der Digipack und das Booklet machen dazu keine Angaben, sondern verweisen nur allgemein auf den Eigenkompositionsstatus aller Songs. Apropos Booklet: Zweite dominierende Farbe neben Schwarz ist ein fahles, aber trotzdem noch warmes Gelb, was den düsteren, aber nicht unterkühlten Ausdruck der Musik bestens unterstreicht. Die Maßnahme, quasi jede Textstrophe in einer anderen Schriftart abzudrucken und einige Textblöcke auch noch schräg zu stellen, wodurch ein eher nervöses Gesamtbild entsteht, kann man mögen oder auch nicht - vielleicht steckt aber auch hier Absicht dahinter, eine bestimmte Komponente des eigenen Schaffens als nervös zu bezeichnen, und das trifft im musikalischen Kontext durchaus aufs Drumming zu, wenn man dieses losgelöst von den anderen Songbestandteilen betrachtet, was man freilich nur im Rahmen der Analyse tun sollte. Lukasz Chmielinski weiß im Gesamtkontext der Musik jedenfalls sehr wohl, was er tut, wo er die Snareschläge neben die erwartete Zählzeit setzen kann und wo er sich mit einem simplen Geradeausbeat begnügen sollte. Und der herzklappenzerschneidende Lauf Jan Niedzielskis im Intro von "Endgame" stellt dem jungen Polen ein prima Zeugnis aus. Daß er auch raumgreifende fette Riffs inszenieren kann, deutet er in "Nothing In Return" an, das durch ein großes Progdoomsolo gekrönt wird, welches Mike Wead auch problemlos bei Memento Mori hätte unterbringen können. Insgesamt bleibt "Lidocaine" aber weitgehend metalfreie Zone, was besonders denjenigen Hörern gefallen wird, die Riversides Konzeptalbum "Anno Domini High Definition" als viel zu hektisch und hart empfunden haben, wobei festgehalten werden muß, daß ebenjene Ausrichtung mit der Thematik des Konzeptes Hand in Hand ging. Einen Song mit offenbar ähnlicher Thematik haben Dianoya allerdings auch geschrieben: "21st Century" folgt auf "Nothing In Return", verarbeitet wilde Rhythmusabfahrten mit schreienden Gitarren und verleiht "Lidocaine" damit ein überraschend hartes Finale (das bereits erwähnte Outro "Venid" hat neben betörenden Akustikpassagen auch nochmal großes Doomriffing in petto), mit dem man anhand der acht Songs zuvor nicht unbedingt gerechnet hätte. Aber so bleibt die interne Spannungs- und Dynamikkurve gewahrt, was dem Album insgesamt durchaus guttut und sein eingangs erwähntes Prädikat "großartig" rechtfertigt.
Kontakt: www.dianoya.com, www.mystic.pl

Tracklist:
Far Cry
Cold Genius
1000 g
One-Sided
Good News Comes After A While
Figaro Song
Best Wishes
Endgame
Nothing In Return
21st Century
Venid



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