www.Crossover-agm.de ANATHEMA: Falling Deeper
von rls

ANATHEMA: Falling Deeper   (Kscope)

Die Fähigkeit, auch mit stark reduzierter Instrumentierung großartige Stimmungen zu erzeugen, besaßen Anathema ja von Anfang an - man erinnere sich an die 23:23 Minuten "Dreaming: The Romance" oder auch die beiden an Fragilität kaum zu überbietenden Akustikstücke "Everwake" und "J'ai Fait Une Promesse", die den finsteren Doomdeath der "Crestfallen"-EP und des "Serenades"-Albums auflockerten und bereicherten. Daß diese Fähigkeit zudem nicht an einer bestimmten Instrumentierung einzelner Songs festzumachen war, zeigte der Digipack des "Eternity"-Albums mit seinen Akustikversionen von "Far Away" und "Eternity III", die beide in der regulären, dort allerdings schon deutlich pinkfloydigeren Instrumentierung im Normalteil des Albums standen, so daß der Besitzer des Digipacks schöne Vergleiche anstellen konnte. 2008 erschien dann das "Hindsight"-Album mit Akustikversionen von Songs der mittleren und späteren Bandphase, das sich bisher allerdings noch nicht in der Kollektion des Rezensenten eingefunden hat, so daß er nur ahnen kann, daß die Cavanagh-Brüder und ihre Mitstreiter auch dort ihre Fähigkeiten zur Wirkungserzielung mittels reduzierter Instrumentierung unter Beweis gestellt haben. "Falling Deeper" ist nun der nächste logische Schritt, aber gleichzeitig auch eine noch größere Herausforderung: Anathema haben ein weiteres Akustikalbum (allerdings mit gelegentlicher Hinzuziehung von Orchesterteppichen) eingespielt, und als Vorlagen wählten sie Songs aus der Prä-"Eternity"-Phase. Der potentielle Interessent liest diese Beschreibung und die Tracklist und staunt erstmal Bauklötze. Erstens fehlt "Dreaming: The Romance", das man sich als ersten Kandidaten für die Songauswahl hätte vorstellen können, und zweitens stehen in der Liste neben den beiden erwähnten Akustikstücken (klar, die dürfen nun wirklich nicht fehlen) auch ultrazähe Brocken wie "Crestfallen" oder "They Die". Anathema haben allerdings nicht den Versuch unternommen, diese 1:1 herzunehmen und lediglich umzuinstrumentieren; sie nehmen sich lediglich bestimmte Passagen oder Themen heraus und stricken um diese herum einen neuen Akustiksong, der zudem weitgehend instrumental bleibt. Neben "Sunset Of Age" enthält nur "Everwake" richtige Leadvocals, beigesteuert im letzteren Falle übrigens von Anneke van Giersbergen, während ansonsten allenfalls Backing Vocals eingemischt wurden, die zwar stimmungsunterstützende, jedoch keine strukturimmanente Wirkung aufweisen. Das müssen sie aber auch nicht, denn die Kombination aus Akustikgitarre, häufigem Klaviereinsatz und eben der zumeist dezenten Orchestrierung (für letztere zeichnet Dave Stewart verantwortlich, der den gleichen Job auch schon beim 2010er Studioalbum mit dem schönen Titel "We're Here Because We're Here" erledigte) funktioniert auch so erstaunlich gut, beruhigt auch den aufgekratztesten Altfan in kurzer Zeit und stellt einen ebenso passenden Soundtrack für Schäferstündchen am mondbeschienenen Wasserfall auf dem Backcover von "Serenades" dar wie eben "Dreaming: The Romance", trotz prinzipiell unterschiedlicher Herangehensweise. Die von "Falling Deeper" eröffnet dem Hörer nämlich zusätzlich auch noch Analysemöglichkeiten, welcher Teil des Originalsongs und welches von dessen Instrumenten jetzt wie umgesetzt wurde, während die 23 Traumminuten einfach nur durch den Raum schweben und sich trotzdem vom gängigen Ambientrauschen durch ein ebenso simples wie gekonntes Arrangement abheben. "Everwake" und "J'ai Fait Une Promesse" bringen statt dessen in den neuen Fassungen das Kunststück fertig, sogar eine etwas "voluminösere" Instrumentierung als die Originale bekommen zu haben und trotzdem genauso fragil wie sie zu klingen. Das originelle Klavierthema von "Crestfallen" wurde beibehalten, während von "They Die" nur der bombastische Orchesterschluß als Vorlage für die luftige Neubearbeitung herangezogen wurde, und selbst der war ja nur in einer der beiden Fassungen dieses Songs enthalten. Offensichtlich haben Anathema "Falling Deeper" außerdem als Gesamtkunstwerk begriffen, denn die meisten der Songübergänge gestalteten sie so unauffällig und harmonisch, daß man bisweilen das Hinüberschlüpfen in den nächsten Song kaum bemerkt und erst dann hellhörig wird, wenn man dort wieder ein bekanntes Fragment entdeckt. Wie um zu beweisen, daß sie trotz der entspannten Stimmung auch noch aufkratzendere Stücke arrangieren können, lassen die Briten den Closer "Sunset Of Age" in einem bombastischeren Orchesterfinale enden und bauen zwischendurch auch mal ein Midtemposchlagzeug und später sogar noch eine richtige elektrische Leadgitarre ein, damit dem Gesamtwerk einen markanten Abschluß gebend. Der Rockfaktor liegt allerdings auch hier so gut wie bei Null, so daß die 38 Minuten über das, was die unverkennbaren Vorbilder Pink Floyd auf ihre regulären Platten bannten, weit hinausgehen. Aber akustisch-halborchestrierte Scheiben gibt's von denen halt nicht, und wer das als einen Verlust empfindet, bekommt hier einen perfekten Ersatz, wobei aber betont sei, daß sich "Falling Deeper" keineswegs auf eine Lückenfüllerrolle beschränken muß, sondern auch und vielleicht sogar besser als autarkes Klangkunstwerk funktioniert. Zwar mag mancher es vielleicht als noch reizvollere Herangehensweise empfinden, alle Songs im Stile des etwas energischeren "Sunset Of Age" umzusetzen, aber Anathema haben eben einen anderen Weg gewählt, und das muß man akzeptieren, oder man läßt es bleiben. Im letzteren Fall entgeht einem allerdings ein auf seine Weise hochgradig interessantes Album, bei dem es übrigens reiner Zufall ist, daß es im gleichen Update rezensiert wird wie die konzeptuell ähnliche, allerdings noch viel dekonstruktivistischere My Dying Bride-Retrospektive "Evinta".
Kontakt: www.kscopemusic.com/anathema

Tracklist:
Crestfallen
Sleep In Sanity
Kingdom
They Die
Everwake
J'ai Fait Une Promesse
Alone
We The Gods
Sunset Of Age
 



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