www.Crossover-agm.de BOSTON SYMPHONY ORCHESTRA: Shostakovich Under Stalin's Shadow - Symphony No. 10
von rls

BOSTON SYMPHONY ORCHESTRA: Shostakovich Under Stalin's Shadow - Symphony No. 10   (Deutsche Grammophon)

Die Beziehung zwischen Dmitri Schostakowitsch und Josef Stalin war eine ganz spezielle - der sowjetische Diktator ließ den eigenwilligen, wenngleich prinzipiell alles andere als systemfremden Künstler bis zu einem gewissen Grad gewähren, statuierte aber an ihm gleich zweimal, 1936 und 1948, ein Exempel, welche Grenzen ein Sowjetkünstler einzuhalten habe. Im Gegensatz zu vielen anderen Angehörigen der Intelligenzija blieb Schostakowitsch am Leben, weil er zum einen auch im Westen zu bekannt war, als daß ihn Stalin einfach hätte verschwinden lassen können, zum zweiten in Stalins Augen trotz allen Eigensinns durchaus noch zu etwas zu gebrauchen war (also z.B. zum Schreiben von Filmmusik oder auch der 7. Sinfonie, der "Leningrader", die als antifaschistisches Musikmanifest um die Welt geschickt wurde, obwohl sie eigentlich anders oder zumindest doppelbödig gemeint gewesen war) und zum dritten auch selbst schlau genug war, bestimmte Werke nur in die Schublade zu legen und sie erst nach Stalins Tod wieder hervorzukramen, etwa die bitterböse Satire "Antiformalistischer Rajok" oder auch die 4. Sinfonie, ein formalistisches Meisterwerk, das eben deswegen den Tod des Komponisten hätte bedeuten können, der statt dessen seine vordergründig optimistische 5. schrieb, sie als "Antwort eines Sowjetkünstlers auf gerechte Kritik" deklarierte und die Doppelbödigkeit so gut versteckte, daß sie der Kulturbürokratie nicht auffiel.
Mit der CD-Serie "Shostakovich Under Stalin's Shadow" widmen sich der Dirigent Andris Nelsons und das von ihm geleitete Boston Symphony Orchestra nun dem Orchesterwerk Schostakowitschs, das in direkter Beziehung zu Stalin steht. Die erste von offenbar drei geplanten CDs (die Cover der zweiten und dritten sind im Booklet bereits abgebildet) markiert dabei eine Art Rahmen um diese Periode. Sie beginnt mit der achtminütigen Passacaglia aus dem zweiten Akt der Oper "Lady Macbeth von Mzensk", dem Bühnenwerk, an dem sich 1936 Stalins Zorn entzündet hatte und das daraufhin, nachdem es zwei Jahre lang einen Triumphzug über die sowjetischen Bühnen gefeiert hatte, schlagartig von den Spielplänen verschwand und erst lange nach Stalins Tod unter dem neuen Titel "Katerina Ismailowa" auferstand - in einer laut offizieller Selbstauskunft des Komponisten umfangreich, tatsächlich aber kaum umgearbeiteten neuen Fassung. Besagte Passacaglia führt wie manch anderes Opernfragment eine gewisse Parallelexistenz als Orchesternummer und spiegelt mit der anfangs brodelnden, später immer weiter abflauenden und am Ende der acht Minuten förmlich lähmenden Musik gleichsam das Schicksal des Komponisten im Jahr 1936, auch wenn das Gebrodel am Anfang in der Oper eigentlich den unmittelbar vorausgegangenen Mord Katerinas an ihrem Schwiegervater reflektiert, die genannte Deutung also zumindest leicht hinkt. Das andere Ende der direkten Auseinandersetzung zwischen Schostakowitsch und Stalin hingegen bildet die Zehnte Sinfonie e-Moll op. 93, ein düsteres, intensives Meisterwerk, das den Kampf Stalins gegen die Intelligenzija spiegelt, zwischen Zuckerbrot, Peitsche und Verzweiflung changiert und ab dem dritten Satz das musikalische Monogramm des Komponisten D - eS - C - H als weiteres Thema einführt, das am Ende schließlich triumphiert - Stalin war 1953 gestorben (als Treppenwitz der Geschichte am gleichen Tag wie Sergej Prokofjew, den Schostakowitsch nur bedingt schätzte, der allerdings gegen Ende hin auch unter Stalins Schatten zu leiden hatte), und Schostakowitsch überlebte den Diktator um 22 Jahre, so daß sein Triumph berechtigt erscheint. Besagte Zehnte wurde dann auch noch 1953 aufgeführt und wird noch heute von kundigen Dirigenten gern in die Wahl gezogen, wenn es um die Symbolisierung eines politischen Kampfes geht, die Siebente aber als ungeeignet erscheint. Daß etwa David Timm anno 2008 für das Gedenkkonzert 40 Jahre nach der Sprengung der Leipziger Universitätskirche durch die poststalinistische DDR-Führung genau diese Zehnte wählte, geht vor dem beschriebenen Hintergrund einerseits als logische Wahl durch, besitzt aber noch einen zusätzlichen doppelten Boden: Stalin ging, Schostakowitsch blieb - die DDR ging, die Universitätskirche blieb, wenngleich als aktueller Neubau, der zudem mittlerweile fast die Bauverzögerungen der Elbphilharmonie Hamburg erreicht hat. Aber das ist wieder eine andere Geschichte.
Andris Nelsons, 1978 in Riga geboren, hat seine erste musikalische Prägung noch während der Sowjetzeit erfahren, wenngleich in Lettland immer schon ein gewisser Sonderweg eingeschlagen wurde und Dinge möglich waren, an die man im Rest der Sowjetunion nie auch nur gedacht hätte. Sein Dirigierstudium hat Nelsons in St. Petersburg absolviert, Schostakowitschs Heimatstadt, die immer ein zentraler Eckpfeiler der sowjetischen Orchestermusik geblieben war. So verwundert es nicht, daß der Lette ein exzellentes Gefühl dafür besitzt, wie man Schostakowitschs Musik eindringlich transportiert, und er hat es offensichtlich auch geschafft, dieses Gefühl an seine Musiker vom Boston Symphony Orchestra zu vermitteln, falls diese es nicht auch schon vorher besessen haben sollten. Dabei nimmt sich Nelsons durchaus viel Zeit und liegt damit auf einer Wellenlänge mit David Timm, während es auch Wiedergaben mit deutlich höheren Durchschnittstempi gibt: Eugene Ormandy ist mit dem Philadelphia Orchestra beispielsweise satte sechs Minuten eher fertig. Aber wer Nelsons und seine Bostoner im Mai 2016 mit Mahlers Neunter erlebt hat, dem ist schon klargeworden, wie wenig sich der Dirigent um etwaige Hörerwartungen in Sachen Tempo schert - er nimmt sich alle Zeit, die er braucht. Auch sonst geht er durchaus eigene Wege und nimmt das an zweiter Satzposition stehende Allegro keineswegs als das gemeinhin hier vermutete grobmotorische Bild des polternden Stalin, der in bestimmten Komponenten nämlich durchaus feingeistige Züge besaß - und diese Widersprüchlichkeit und Vielschichtigkeit vermeint man auch hier in Nelsons' Lesart wiederzuerkennen. Und die Verzweiflung im Kopfsatz um Minute 14 herum muß man erstmal so intensiv hinbekommen, auch die Hornthemen im dritten Satz kommen unwirklich aus weiter Ferne, während der Schlußtriumph sich nicht in grenzenlosem Jubel manifestiert, sondern auch hier bis kurz vor Ende noch Zwischentöne zuläßt. Solch erfreulich undogmatische Herangehensweise adelt den Dirigenten und seine Musiker, und auch wenn gerade bei Schostakowitsch-Sinfonien das Liveerlebnis der Tonkonserve immer vorzuziehen ist, so freut man sich doch auf die weiteren Teile der CD-Serie und wünscht sich, daß diese nicht auf drei Teile beschränkt bleibt, sondern noch einen vierten erhält, nämlich mit der eingangs erwähnten 4. Sinfonie, die ja eigentlich am allerlängsten in Stalins Schatten dahinkümmerte und erst lange nach dessen Tod ihre Uraufführung erfuhr.
Kontakt: www.deutschegrammophon.com, www.andrisnelsons.com, www.bso.org

Tracklist:
Dmitri Schostakowitsch (1906-1975)
Passacaglia (Zwischenspiel aus dem II. Akt der Oper "Lady Macbeth von Mzensk")
Sinfonie Nr. 10 e-Moll op. 93
  Moderato
  Allegro
  Allegretto
  Andante - Allegro






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