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Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler
von rls anno 2008

Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler

Gemäß einem alten sowjetischen und natürlich auch in der DDR verbreiteten Propagandalied führte uns Stalin zu Glück und Frieden - nur eben nicht alle Menschen. Ein besonderes Kapitel in der Beziehung Stalins zu anderen Menschen bildete die sogenannte Intelligenzija, also das Spektrum von Ingenieuren bis hin zu Künstlern. Bauern beispielsweise gab es genug, auf diese konnte der rote Zar seinen Satz "Der Tod eines Menschen ist eine Tragödie - der Tod einer Million Menschen ist Statistik" prägen, ohne größere Folgen befürchten zu müssen (die große Hungerkatastrophe im Rahmen der Zwangskollektivierung betraf in erster Linie die Landbevölkerung selbst, aber keinesfalls die Oberschicht und Väterchen Stalin logischerweise schon gar nicht). Aber mit der Intelligenzija war das so eine Sache. Stalin war selbst klug genug, um diese von ihm wenig geschätzte, da notorisch politisch unzuverlässige Gesellschaftsschicht nicht komplett auf die Abschußliste zu setzen und etwa einen Steinzeitkommunismus zu etablieren - mit einem solchen Experiment scheiterten die weniger klugen Roten Khmer lange Jahre nach Stalins Tod in Kambodscha. In diesem Kontext dachte der Sowjetführer deutlich pragmatischer, und so blieben diejenigen Angehörigen der Intelligenzija, die für Stalin irgendeine praktische Bedeutung hatten oder haben könnten, am Leben - zumindest für eine gewisse Zeit, denn absolut sicher konnte sich niemand sein, wann der Wind aus dem Kreml mal wieder in eine andere Richtung wehen würde und man wieder akute Gefahr lief, sein Lebenslicht ausgeblasen zu bekommen. Einige Künstler, die am weitesten im Fokus der Öffentlichkeit standen, hatten es besonders schwer - einerseits waren die Erwartungen an sie, etwas Nützliches für den Aufbau der neuen Gesellschaftsordnung zu tun, besonders groß, andererseits witterte Stalin in jeglicher Form von Massenbegeisterung sofort eine Verschwörung gegen ihn, und wenn ein Dichter oder ein Komponist nach der Rezitation oder Aufführung eines Werkes vom Publikum mit stehenden Ovationen gefeiert wurde, ließ dies die Alarmglocken bei Stalin schrillen und bedeutete nicht selten den Untergang für den jeweiligen Kreativling.
Einer, der in einer ganz speziellen Position stand, war der Komponist Dmitri Schostakowitsch. Die Absurdität seiner Lage speiste sich aus einer eigentümlichen Kombination von Faktoren. Einesteils war Schostakowitsch im Gegensatz zu Tausenden anderen Kulturschaffenden der Sowjetunion auch in Westeuropa und den USA nicht nur bekannt, sondern geradezu hochangesehen - ein Status, den er dem phänomenalen Erfolg seiner 1. Sinfonie zu verdanken hatte und der dazu führte, daß man den Komponisten nicht mal eben unauffällig in einem Arbeitslager verschwinden lassen oder gar erschießen konnte, ohne es sich mit den betreffenden Ländern nachhaltig zu verscherzen (und hier war Stalin wieder Pragmatiker genug, um zu erkennen, daß er im Kampf gegen Hitler die Westalliierten zwingend brauchte). Zum zweiten hatte es Schostakowitsch leichter, seine der offiziellen Parteilinie widersprechenden Gedanken zu äußern - er brachte sie verschlüsselt in seinen Kompositionen unter, wo sie nur von Eingeweihten entdeckt werden konnten, was einem Schriftsteller oder Theaterregisseur in analoger Form kaum möglich war. Zum dritten gehörte Schostakowitsch tatsächlich, zumindest phasenweise, zur nach Stalinscher Definition nützlichen Fraktion der Intelligenzija, und auch diese Situation besitzt mehrere Ebenen. Einesteils schrieb Schostakowitsch neben seinen Sinfonien, Liedern und Kammermusikwerken nämlich auch Filmmusik (wenngleich letztgenannte mehr oder weniger nur zum Broterwerb, ohne großes Herzblut hineinzulegen - mit einigen Ausnahmen allerdings) und hatte die Musik für einige von Stalins Lieblingsfilmen komponiert. (Wer Stalin für einen kulturlosen Barbaren hält, der irrt gewaltig: Der Diktator hatte durchaus nicht wenig Ahnung von Literatur und Filmkunst und liebte klassische Musik, vor allem Opern.) Zum zweiten paßte sich selbst Schostakowitsch bisweilen der herrschenden Doktrin an und schrieb ein in deren Kontext verwertbares Werk, etwa "Das Lied von den Wäldern", das die sowjetische Aufforstungspolitik nach dem Zweiten Weltkrieg, der Millionen Hektar Wald verwüstet hatte, lobte. Zum dritten schließlich spielte Schostakowitsch im Zweiten Weltkrieg eine ganz spezielle Rolle: Seine 7. Sinfonie, mit dem Beinamen "Leningrader" apostrophiert und im von der Wehrmacht belagerten Leningrad fertig komponiert, wurde von der sowjetischen Kulturbürokratie kurzerhand als Symbol des Widerstandes gegen die deutschen Invasoren gedeutet (obwohl Schostakowitsch sie eigentlich als Symbol des Kampfes der Intelligenzija gegen ihre Verfolgung in den 30er Jahren konzipiert hatte - eine solche Umdeutung wäre in der Literatur undenkbar gewesen) und daher sogar im belagerten Leningrad gespielt, zudem sehr häufig im westlichen Ausland aufgeführt, um den Durchhaltewillen und den gemeinsamen Kampf gegen die Nationalsozialisten zu bekräftigen. Das alles führte dazu, daß Schostakowitsch bei Stalin eine Art "Sonderstatus" hatte, obwohl er sich dessen natürlich nie sicher sein konnte. Aber das Grundprinzip funktionierte letztlich immer: Wenn Schostakowitsch mal wieder über die Stränge schlug, gab es vom Diktator die Peitsche, die zwischenzeitlich immer wieder mit etwas Zuckerbrot garniert wurde. Zwei zentrale Peitschenhiebe kennt die sowjetische Kulturgeschichte: den Prawda-Artikel "Chaos statt Musik" von 1936, der die Formalismusdebatte in der Sowjetunion lostrat und exemplarisch Schostakowitschs relativ avantgardistische, da in erotischer Hinsicht erstaunlich freizügige und im Sinne des politischen Kampfes völlig unnütze Oper "Lady Macbeth von Mzensk" geißelte, sowie den Schdanow-Beschluß von 1948, der in eine ähnliche Richtung tendierte und Schostakowitsch in der Liste von formalistischen Komponisten ganz nach vorne setzte - ein Nachtreten ohne Ball, weil Schostakowitsch 1945 nicht etwa eine Siegessinfonie geschrieben hatte, sondern in Gestalt seiner 9. Sinfonie ein nicht mal halbstündiges, fast fragmentarisch wirkendes Werk, das eher einem Requiem für die Toten des Krieges glich, was er bereits in ähnlicher Form in seiner noch während des Krieges geschriebenen 8. Sinfonie zum Ausdruck gebracht hatte. Schostakowitsch rächte sich an Schdanow (lange Zeit "zweiter Mann im Staate" nach Stalin) und den anderen Kulturbürokraten auf seine Weise, indem er eine beißende Satire namens "Antiformalistischer Rajok" komponierte, diese freilich in der Schublade verschwinden ließ, da ihre Veröffentlichung sein sofortiges Todesurteil gewesen wäre - sie wurde erst 1989 uraufgeführt. Letztlich starb Stalin 1953, Schostakowitsch erst 1975 - und zwar eines natürlichen Todes; ein Kunststück, das kaum ein anderer sowjetischer Kulturschaffender in derart zentraler Position geschafft hatte.
Natürlich ist die Beziehung zwischen Stalin und Schostakowitsch noch deutlich vielschichtiger, als sie hier in diesen wenigen Zeilen angedeutet werden kann, und all diesen Schichten widmet sich Solomon Wolkows Buch "Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler". Wolkow, der bekanntlich auch die umstrittenen Memoiren Schostakowitschs herausgegeben hat, besitzt gegenüber vielen anderen Autoren, die sich dem Phänomen "Kultur in der Stalinära" nähern, zwei entscheidende Vorteile: Er hat jahrzehntelang in der Sowjetunion gelebt und kennt die dortigen Verhältnisse daher genau, weiß also auch, wie man bestimmte Dokumente zu lesen bzw. zu werten oder einzuordnen hat (wenngleich er, da Jahrgang 1944, die Stalinära nur noch am Rande miterlebt hat - aber auch unter Chruschtschow und Breshnew mußte man noch vorsichtig genug sein, um nicht zwischen diverse Mühlen zu geraten) - und er kannte Schostakowitsch persönlich und hatte ein ganz besonderes Vertrauensverhältnis zu ihm, ohne das auch die angesprochenen Memoiren nie entstanden wären. Wolkow schildert nicht nur das direkte Verhältnis zwischen Stalin und Schostakowitsch, sondern bettet diese Schilderung in eine weit größere Darstellung russisch-sowjetischer Kultugeschichte ein (sein Lieblingsvergleich ist dabei der zwischen Stalin vs. Schostakowitsch einerseits und Zar Nikolaus I. vs. Alexander Puschkin andererseits - da tun sich ein paar erstaunliche Parallelen auf), die sich spannend und schlüssig liest, wenngleich man eines beachten muß: Der Autor setzt ein beträchtliches Grundwissen beim Leser voraus, was die zentral behandelte Epoche und die Figuren betrifft - nicht bei allen, aber doch bei etlichen Figuren; so erfährt man beispielsweise erst auf Seite 317, wofür Andrei Schdanow eigentlich zuständig war und welche Position er innehatte, obwohl er schon zuvor häufig eine Rolle spielt. Auch an die zahlreichen Zeitsprünge muß man sich erst gewöhnen, aber sie erscheinen allesamt logisch und durch das Sujet determiniert. Dafür ist die sehr bildreiche, aber trotzdem deutliche Sprache der Übersetzung (Klaus-Dieter Schmidt) ausdrücklich zu loben; ein ausführliches Literaturverzeichnis erleichtert das tiefere Hineinarbeiten ins Thema der russischen bzw. sowjetischen Kultur, wenngleich man hierfür der russischen Sprache mächtig sein muß, denn in dieser ist das Gros der weiterführenden Literatur gehalten. Aber für einen interessanten Überblick mit Vertiefung an einer bestimmten Stelle, nämlich eben dem Verhältnis Stalin und Schostakowitsch, ist dieses Buch hervorragend geeignet.

Solomon Wolkow: Stalin und Schostakowitsch. Der Diktator und der Künstler. Berlin: Propyläen 2004. ISBN 3-549-07211-2. 464 Seiten. 29,00 Euro
 






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