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Kammerphilharmonie Leipzig   16.03.2008   Leipzig, Hochschule für Musik und Theater
von rls

Vier Tage Buchmesse mit gefühlten 327000 Veranstaltungen liegen hinter Leipzig, und am letzten Abend steht einer nicht eben geringen Anzahl von Leipzigern wieder der Sinn nach Musik eher klassischen Zuschnitts. Ein achtbarer Teil dieser Anzahl findet sich in der hiesigen Musikhochschule ein, um der Kammerphlharmonie Leipzig zu lauschen. Die entpuppt sich, als sie die Bühne betritt, eher dem Terminus "Philharmonie" als dem Terminus "Kammer" zugeneigt, wenn man sich die Orchestergröße so ansieht. Als erstes Werk steht Mendelssohns "Hebriden"-Ouvertüre auf dem Programm, ein Werk, das wie die 3. Sinfonie, die sogenannte Schottische, von einer Reise des Komponisten in den Nordteil des Vereinigten Königreichs inspiriert wurde. Man hört also die Atlantikwogen durch einen guten Teil des Werkes rauschen, der Sturm braust, und auch wenn er in seiner Intensität mal nachläßt, weht zumindest noch eine arg steife Brise. Diese Natureindrücke können der sehr gestenstark dirigierende Michael Köhler und seine große Mannschaft sehr gut umsetzen, auch wenn die Celli im Intro noch ein wenig durcheinanderpurzeln; sie wissen sich aber schnell deutlich zu steigern. Der "Raumeindruck" der Ouvertüre stimmt jedenfalls, der Bühnensturm hat mindestens Windstärke 9, und selbst die irrsinnigsten Speedpassagen, mit denen Mendelssohn die Ausführenden fordert, geraten nicht zum wilden Chaos, sondern bleiben immer auf den Punkt gespielt. Da stört es auch nicht, daß das Holz (außer in diversen Solopassagen) generell ein wenig zu trocken daherkommt - "durchfeuchtet" ist der Hörer von der andernorts spritzenden Gischt schon genug. Herb, aber schön - und sehr gut vom Orchester umgesetzt.
Eine gewisse Herbheit atmet auch Richard Strauss' "Tod und Verklärung", wobei das in diesem Fall ja thematisch bedingt ist. So weist gleich die einleitende Passage eine gar nicht so leicht umzusetzende Sinistrität auf, aber das stellt kein Problem für die Leipziger dar, wobei besonders die Paukenarbeit besticht, wohingegen die erste Flötenpassage ein wenig zu schräg vom Himmel herabsteigt. Überhaupt fällt hier nicht selten auf, daß einzelne Soloparts für sich betrachtet zwar zweifellos als schön interpretiert zu bezeichnen sind, es aber am Formen dieser schönen Einzelteile zu einem großen Ganzen etwas hapert; als Exempel sei die Solopassage für Harfe, Violine und Horn genannt. Zwar kommt der von grummelnden Tiefstreichern vorbereitete erste Ausbruch mit kompakter Kompetenz daher, und das Blech gibt sein Bestes (wobei der Rezensent von der 1. Posaune förmlich hinweggepustet wird, denn er sitzt exakt auf einer von deren Schalltrichter in Richtung Publikum führenden und durch keinen dazwischensitzenden Musiker unterbrochenen Geraden), aber diverse Störgeräusche auf der Bühne torpedieren den Eindruck folgender Pianopassagen, und auch die wellenartigen Bewegungen vor dem ersten, noch kurzen Triumphpart lassen (ganz im Gegensatz zu den ähnlichen Konstruktionen bei Mendelssohn) noch dynamische Reserven erkennen. Das Holz gönnt sich vor dem Bratschensolo ein paar Unsauberkeiten, dafür entschädigt aber die perfekt grollende Doppelsolopassage, die erst von den Hörnern und dann von den Celli bestritten wird. Die Einsätze für die Schlußakkorde bekräftigen dann allerdings eher den zwiespältigen Charakter dieser Aufführung, indem Pauke und Orchesterrest sich nicht so ganz einig sind.
Nach der Pause wird Dmitri Schostakowitschs 1. Sinfonie aufs Pult gelegt - Werke dieses Komponisten sind eine feste Größe im Programm der Kammerphilharmonie, aber daß ausgerechnet die heutzutage selten zu hörende 1. Sinfonie in der Hochschule gespielt wird, ruft den alten Witz ins Gedächtnis, daß der Hahn ein Straußenei in den Hühnerstall rollt und doziert: "Meine Damen, ich will Ihnen zwar keine Vorschriften machen, aber Sie sollen wenigstens sehen, was anderswo geleistet wird." Selbige Sinfonie war nämlich Schostakowitschs Abschlußarbeit seines Kompositionsstudiums am Leningrader Konservatorium anno 1925 - da war der Komponist übrigens grade erst 19, also in einem Alter, wo heute der durchschnittliche Kompositionsstudent noch nicht einmal an der Ausbildungsstätte angekommen ist. Die Uraufführung mit der Leningrader Philharmonie anno 1926 wurde ein riesiger Erfolg, das Werk fand bald auch Gehör in Mitteleuropa und in den USA, legte den Grundstein für den Weltruhm Schostakowitschs, der wiederum dem Komponisten in späteren Jahrzehnten mehrmals das an einem seidenen Faden hängende Leben retten sollte - unliebsame Personen von diesem internationalen Status aus dem Weg zu räumen konnte sich selbst Stalin nicht allzuoft leisten (einige solcher Fälle gab es dennoch, z.B. der des Regisseurs Sergej Eisenstein). Schostakowitsch hatte zudem Glück, daß die Sinfonie noch in den 20er Jahren triumphierte, als der "Sozialistische Realismus" noch nicht zum allgemeingültigen Orientierungspunkt des künstlerischen Schaffens erklärt worden war - zehn Jahre später wäre er mit einem derartigen jazzorientierten und - jawohl - formalistischen Werk völlig gegen die von der sowjetischen Kulturbürokratie aufgebauten Mauern gelaufen. "Formalistisch" sind hier gleich mehrere Dinge, etwa das kaum inhaltlich determinierte Dominieren gezupfter Streicher in vielen Passagen oder die vom Orchester sehr gut umgesetzten hin und her fliegenden Einzeltöne oder -tongruppen gleich zu Beginn. Schon in diesem Frühwerk erweist sich Schostakowitsch zudem als Meister des bruchhaftigen Übergangs in puncto Dynamik - viele Forte- oder gar Fortissimo-Passagen kommen relativ unvorbereitet angeflogen, und auch hier transportiert das Orchester die zugehörigen Überraschungseffekte mit der gebotenen Souveränität, ganz zu schweigen vom traumhaft auskomponierten und umgesetzten Übergang aus dem Flöten- ins Violinsolo im 1. Satz. Das mit "Allegro" überschriebene Scherzo an zweiter Satzposition läßt die Jazzanleihen am deutlichsten zutagetreten, nicht nur weil der auch als Pianist arbeitende Komponist hier ein Klavier an markanter Stelle besetzt, das gleich im Anfangspart mit Hochgeschwindigkeitsorchesterjazz jede Menge zu tun bekommt. Aber auch hier baut der Komponist rigorose Brüche ein, aus dem Speedjazz wird ein Trauermarsch, aus diesem wieder Jazz und aus dem zwischenzeitlichen einlullenden Nichts plötzlich ein altrömischer Triumphmarsch, der über drei Klavierschlägen aber wieder ins Nichts und in einen originell ausgeformten Schluß mündet. Solch einer Dynamik muß man als Orchester erstmal gewachsen sein, und die Leipziger sind es. Etwas gleichförmiger gibt sich das Lento, aber auch hier wird die Idylle aus fast ätherischen Klangflächen irgendwann mal militarisiert und mündet in einer großen Mixtur aus diesen Elementen. Sowohl Posaunen als auch Hörner lassen hier bisweilen etwas die Exaktheit vermissen, aber dafür entschädigt die brillant ausgespielte Tempoverschleppung bei der Übernahme des Tubenthemas ins Cello locker. Attacca folgt der letzte Satz mit einem so simplen wie genialen Übergang, nämlich einem einfachen, von pp ins ff gesteigerten Trommelwirbel. Das Klavier ist in diesem Satz auch wieder da, aber es spielt keinen Jazz mehr; ein Glockenspiel tritt hinzu, und die Bruchstruktur erinnert am ehesten an den ersten Satz, ist aber noch ein Stück weiter gesteigert worden: Wenn man hört, wie ein völliges Orchesterinferno in eine simple Paukenfigur und anschließend in ein Cellosolo übergeht, und wenn man dann noch hört, wie die Leipziger das meistern, zieht man unwillkürlich den imaginären Hut, zumal das generell in der Umsetzung etwas schwankende Cellosolo auch noch mit dem Übergang von pp zu p (geschätzt - ich hab' keine Partitur hier) den einzigen magic moment des Abends bereithält. Das Finale bietet wilden Orchesterlärm mit Struktur, der so ganz anders klingt als all das, was das Schönberg-Umfeld in Mitteleuropa zur gleichen Zeit produzierte, aber nicht weniger "fortschrittlich", wenngleich die eigentliche Entdeckung innerhalb des Werkes das Scherzo bildet, das bei der Uraufführung seinerzeit sogar noch einmal als Zugabe wiederholt werden mußte. Zu einer solchen Maßnahme kommt es in Leipzig nicht, aber den lauten Applaus haben sich Orchester und Dirigent trotzdem redlich verdient.



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