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Boston Symphony Orchestra   05.05.2016   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Das ist er also, der Mann, der Riccardo Chailly als Gewandhauskapellmeister folgen wird: Andris Nelsons, aus Lettland stammender Enddreißiger und in seiner anderen Hauptfunktion Chef des Boston Symphony Orchestra, das auf seiner aktuellen Europatour zum ersten Mal in Leipzig seine Visitenkarte abgibt. Von den beiden Tourprogrammen kommt das monolithische ohne Erweiterung zur Aufführung: Mahlers 9. Sinfonie, die am Folgeabend in Dresden noch um ein Werk von Max Bruch ergänzt wird, in Leipzig aber den alleinigen Programmbestandteil bildet. Nun ist das Orchester auch unter Nelsons' Leitung bereits länger mit dem Werk vertraut - es hatte auch im Antrittskonzert des Letten zwei Jahre zuvor auf dem Plan gestanden. In Leipzig wiederum ist man, was Mahler angeht, gleich in doppelter Hinsicht verwöhnt, erstens durch Riccardo Chailly und die Formel "Mahler + Chailly = Weltklasse", zum anderen aber auch durch das Internationale Mahler-Festival anno 2011 zum 100. Todestag des Komponisten, die dem Leipziger Publikum u.a. alle seine Sinfonien in teils außerordentlich starken Interpretationen renommierter Orchester beschert hatten. Insofern durfte man mit großer Spannung erwarten, was Nelsons und seine Bostoner mit der Neunten auf die Bühne bringen würden, und dieser Erwartungshaltung entspricht am Himmelfahrtsabend auch der Füllstand des Gewandhauses: ausverkauft.
Wer noch kein amerikanisches Orchester live erlebt hat, wird sich über den Beginn gewundert haben: Die Musiker ziehen nicht etwa kollektiv ein, sondern kommen in der halben Stunde vor dem Beginn einzeln auf die Bühne und beginnen sich warmzuspielen, wodurch sie einen Geräuschpegel erzeugen, der die übliche eingespielte Begrüßung samt Copyrighthinweis ins akustische Nirwana befördert. Die Anordnung der Streicher erfolgt aus Dirigentensicht links beginnend von den höchsten zu den tiefsten im Halbkreis und damit anders als die vom Gewandhausorchester bekannte "gemischte" Aufstellung mit den Kontrabässen links hinter den Violinen - da darf man gespannt sein, wie Nelsons als Gewandhauskapellmeister arbeiten wird (beide Methoden haben ihre Vor- und Nachteile). Aber an diesem Abend interessiert erstmal, was er aus Mahlers Neunter macht. Die verträumte Einleitung weckt hohe Erwartungen, und eine knappe anderthalbe Stunde später ist klar, daß diese problemlos erfüllt werden konnten. Dabei fällt Nelsons' sehr körperbetontes Dirigat auf: Mal lehnt er sich ans Gitter hinter dem Pult, dieses mit der Linken umfassend, während die Rechte entspannt weiterdirigiert, mal nehmen Ober- und Unterkörper einen fast rechten Winkel ein, mal rockt er in Kniebeuge, und auch die große "Seid umschlungen, Millionen"-Geste kommt zu ihrem Recht. Freilich hülfe alle Gymnastik nichts, ließe sich das Orchester nicht bereitwillig das Geforderte entlocken - aber da stimmt die Chemie zwischen Orchester und Dirigent offensichtlich, bekommt der Hörer brillante Klangformungen zu hören, beeindrucken an diesem Abend besonders die förmlich aus dem Ärmel geschüttelten Tempowechsel, schon beginnend mit dem durch die erste Posaune angedrohten ersten kleinen Ausbruch. Für subtilste Klangarbeit spricht auch, daß selbst kürzeste Tanzgroovepassagen noch locker gelingen und eben nicht in der umgebenden Wildnis untergehen. Und daß auch Nelsons ein Meister der Spannungserzeugung in den langsamen Passagen ist, davon darf man sich im ersten Satz mehrfach und minutenlang überzeugen. Was die Blechbläser an Sinistrität aus diversen Passagen rausholen, läßt ihre winzigen Untightheiten gern vergessen; die Hörner und die Röhrenglocken sind sich auch nicht ganz hundertptozentig einig. Dafür gerät der mehrminütige leise Schlußteil des ersten Satzes zum hochspannenden Meisterwerk, bei dem man kaum zu atmen wagt.
Der scherzoartige zweite Satz beweist, daß Nelsons auch am anderen Skalenende prima arbeiten kann: Wie er gleich in der Einleitung die tänzerische Eleganz durch die Derbheiten aus Bratschen und Celli konterkariert, das überzeugt ebenso wie die Tempowechsel, die hier noch abrupter erfolgen als im ersten Satz, aber trotzdem, und das ist das große Kunststück, nicht den Eindruck von Schroffheit hinterlassen. Der abgestoppte Mittelteil gelingt wiederum mit großer Fiesheit, während die Wiederholungen der Einleitung den konterkarierenden Charakter abschwächen. Zu den restlichen Stimmungswechseln des Satzes noch mehr zu schreiben hieße Tee nach Boston zu exportieren - man lauscht jeder Wendung mit großem Interesse und hat nie das Gefühl, Dirigent und Orchester müßten sich hier mühevoll hindurchlavieren.
Das burleske Rondo an dritter Stelle verlangt den Beteiligten Humor ab - aber die Amerikaner und ihr Lette sind auch dieser Herausforderung gewachsen: Nelsons entwickelt viel Zug zum Tor, der aber nie unkontrolliert wirkt, hingegen mit feiner Ironie punktet, nicht zuletzt wenn der Komponist gegen Satzende dreimal eine Melodiefolge evoziert, die sich in "I'm dreaming of a white Christmas" weiterentwickeln ließe, was Amerikaner natürlich besonders anspornen sollte. Aber bis dahin hat man sich schon über viele andere Dinge freuen dürfen, etwa das völlig abstruse Glockenspiel, die aus der Zeit gefallenen Tanzrhythmen, die abermals große Spannung im langsamen Teil und die Fähigkeit, genau so viel bombastische Größe zu entwickeln, wie Mahler es in dieser Sinfonie (im bewußten Gegensatz zur überhöhten Achten) maximal zuläßt, und das ist nicht sonderlich viel. Dafür kommt viel Energie im furiosen Schlußpart von der Bühne geflattert, und wer das Werk nicht kennt, würde hier sein Ende vermuten und losklatschen.
In Leipzig sitzen freilich nur Kenner (oder Programmheftleser) im Publikum, und die wissen natürlich, daß noch ein vierter Satz folgt, wieder ein Adagio wie schon der erste. Nelsons nimmt einen Schluck aus der Wasserflasche, die am Pult steht, dann zaubert er mit seinen Streichern einen wunderbaren Choral hervor, dem auch winzige Ausfaserungen bei den Einsätzen nichts von seiner großartigen Wirkung rauben können. Und so geht es weiter: Nelsons legt im Rahmen des von Mahler Verlangten einen gekonnten Weg durchs Tempounterholz, was auch bedeutet, daß er mal an den Ketten zerrt, wenn es ihm nötig erscheint. Er überzeugt in den großen Schichtungen ebenso wie in der Größe der (wenigen) Tutti, die er weit entfernt vom möglichen Lautstärkemaximum ansiedelt - und im langen ruhigen Schlußteil schafft er das Kunststück, die Atmosphäre noch packender, noch spannender aufzubauen als im ersten Satz. Da herrscht so viel Ruhe, daß man von der Seitenempore aus mindestens einen Besucher im Parkett mit leicht schnaufenden Atemgeräuschen hört, und ein derart langes Stehen der Spannung nach dem letzten Ton hat der Rezensent, der ja nicht selten Gast im Gewandhaus ist, dort noch nie erlebt. Dann aber bricht donnernder Applaus los, beim dritten Vorhang steht der ganze Saal, und hätte Nelsons nicht nach dem vierten Vorhang seinen Konzertmeister mitgenommen, die Applausintensität hätte noch für weitere Vorhänge gereicht. So darf man sich definitiv freuen, die Bostoner in Zukunft häufiger in Leipzig begrüßen zu dürfen - und die Erwartungen an Nelsons als Gewandhauskapellmeister liegen nach diesem Erlebnis ausgesprochen hoch.



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