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Internationales Mahler Festival Leipzig: 2. Sinfonie (Gewandhausorchester Leipzig)   17.05.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Riccardo Chaillys Idee ist so simpel wie genial: Zum 100. Todestag des großen Sinfonikers Gustav Mahler sollte dessen überschaubares, aber gewichtiges kompositorisches Werk im Bereich der Sinfonik komplett aufgeführt werden - und zwar nicht als Zyklus über ein ganzes Jahr verteilt, wie man das sonst zu machen pflegt, sondern in Verdichtung auf ein knapp zweiwöchiges Festival. Gesagt, getan! Nun kann ein einzelnes Orchester aber unmöglich 14 Konzerte mit 10 verschiedenen Sinfonien innerhalb von 13 Tagen bewältigen - aber das ist ja kein Problem: Man lädt sich Gastorchester ein, in diesem Fall sogar hauptsächlich solche mit einem direkten Mahler-Bezug, weil der zu Ehrende sie zu seinen Lebzeiten selbst dirigiert hat. Aber natürlich bleibt das "heimische" Orchester samt seines Dirigenten und Festivalideengebers nicht außen vor: Riccardo Chailly und das Gewandhausorchester spielen selbst fünf der Konzerte, und zwar mit zwei Sinfonien. Für die Achte müssen aufgrund des großen Aufwandes und der riesigen Kartennachfrage gleich drei Konzerte angesetzt werden, die das Festivalende prägen, während die Zweite mit zwei Konzerten das Festival eröffnet. Der Rezensent ist beim ersten dieser zwei Konzerte vor Ort und sitzt auf einem Platz, wo er vorher noch nie gesessen hat: auf der rechten Orchesterempore fast direkt neben der Orgelempore, auf der die Chöre stehen, und direkt über den Blechbläsern. Letzteres ist freilich gar nicht so problematisch für den Gesamtklang, wie man beim Lesen zunächst vermuten könnte: Trompeten und Posaunen spielen mit den Schalltrichtern nach vorn, nur die Tuba nach oben - ergo kein Blechwust im Ohr. Für die trotzdem zu lösende Aufgabe, das Schlagzeug im rechten und den Orchesterrest im linken Ohr zu haben und daraus einen Gesamtsound zu "berechnen", braucht das Hirn freilich doch ein bißchen Zeit, aber es löst diese Aufgabe schließlich problemlos. Nur über die beiden Gesangssolistinnen Christiane Oelze (Sopran) und Sarah Connolly (Alt), die beide übrigens kurzfristig eingesprungen sind, weil die ursprünglich eingeplanten Damen krankheitsbedingt ausfallen, kann der Rezensent nichts Musikalisches sagen, sondern könnte allenfalls Rückenstudien beisteuern - sie stehen mit dem Rücken zum Rezensentensitzplatz neben dem Dirigentenpult und singen logischerweise in eine ganz andere Richtung, was ihre Leistung unbewertbar macht.
Nun hat der Rezensent vor fünf Jahren mal die Formel "Mahler+Chailly=Weltklasse" aufgestellt, und natürlich geht man da mit einer gewissen Erwartungshaltung ins Geschehen, der durch eine Art lautlosen Urschrei des Dirigenten im ersten Einsatz noch gesteigert wird. Trotzdem oder gerade deshalb sitzt man nach dem ersten Satz irgendwie hilflos auf seinem Sitz. Chailly läßt das Orchester nämlich erstaunlich harmoniebedürftig fließen, ebnet manche scharf gewohnte Akzentuierung ein, bleibt oftmals mehr indifferent als zuweisungskräftig und schüttet mit dem Material abgetragener Bergkuppen manchen Graben zu - eine solche Strategie war man von ihm bisher noch überhaupt nicht gewöhnt. Sie hilft natürlich der Ausdrucksstärkung in den Ruhepolen - die lyrische Kantilene des ersten Satzes etwa gelingt förmlich zum Reinlegen. Aber den großen Klangkaskaden nimmt sie einiges von ihrem Reiz, selbst wenn Gigantismus und Schroffheit der Ausbrüche mit fortschreitender Spieldauer etwas zunehmen. Symptomatisch ist der Satzschluß: Die Streicher intonieren eine messerscharfe absteigende Tonleiter, aber die zugehörige Explosion bleibt aus, und man ertappt sich irgendwann, weniger aufs Gesamtbild zu hören als auf prima Einzelleistungen zu warten, was im allgemeinen kein gutes Zeichen ist, trotz der Brillanz etlicher dieser Einzelleistungen wie dem traumhaften Zusammenspiel von Soloflöte und -violine.
Die fünfminütige Pause, die Mahler zwischen dem ersten und zweiten Satz wünschte, verkürzt Chailly etwas, um dann im Andante moderato die friedliche Herangehensweise fortzusetzen, wo sie freilich auch viel besser aufgehoben ist, wenngleich mancher Hörer die förmlich federnden Energieparts auch nicht so richtig goutiert haben und die Streicher vielleicht als zu streichelnd empfunden haben mag. Das freilich dürfte pure Geschmackssache sein - nicht unbedingt Geschmackssache aber ist neben der neuerlichen Strategieüberraschung der Eindruck, daß es dem ganzen Satz an diesem Abend etwas an Spannung mangelt. Und obwohl die Pauke zu Beginn des dritten Satzes alle wieder aufweckt, geht die Mäßigung auch hier weiter. Der Ländler atmet eine hier selten gehörte Eleganz, zumindest einige ironische Aufbrüche sind allerdings erhalten geblieben, und der Sitzplatz des Rezensenten hat den Vorteil, daß man den subtilen langen Flötenton, der die erste Trompetenattacke einleitet, genau hört und dessen strukturdeterminierenden Einfluß richtig einzuschätzen lernt. Die gewisse Hektik nach der Attacke ist natürlich geplant und die folgende gemischte Krieg-/Frieden-Strategie durchaus geschickt angelegt - aber irgendwie passiert wieder einmal zu wenig. Im "Urlicht"-Satz darf dann auch wenig passieren, und das tut es folglich auch nicht, bevor der große fünfte Satz wieder mit einem tonlosen Chailly-Urschrei gebinnt. Und in diesem Satz löst der Dirigent dann endlich das Versprechen des Schreis ein! Da meißelt er die Ecken und Kanten heraus, und da bekommt er vor allem die Spannung in den Griff und arbeitet bewußt mit ihr, wenn er sie in einer schrittweisen Steigerung für den Zuschauer förmlich quälend langsam formt (das ist hier als positives Werturteil gemeint, denn es kathartisiert), bevor ein traumhafter Posaunenchoral für große Feierlichkeit sorgt und einen die Wildheit der Energieausbrüche angenehm gegen die Rückenlehne des Sitzes drückt. Selbst wenn das Fernorchester in seiner zweiten Passage ein wenig zu schleppen beginnt, ist alles schnell wieder im Lot, und in der letzten Fernorchesterpassage steht die Spannung mit unglaublicher Intensität, so daß man kaum zu atmen wagt und nur verzweifelt denkt: "Warum jetzt erst?" Gut: Diese Spannung in der ganzen Sinfonie hätte zu Todesfällen im Saal wegen Erstickung geführt, aber eine gewisse Dosis mehr davon in den ersten vier Sätzen hätte es sein dürfen, nein, eigentlich sein müssen. Eine exzellente Leistung kommt von den Chören (MDR Rundfunkchor und GewandhausChor haben als Verstärkung noch den Rundfunkchor Berlin zur Seite bekommen), die im pp-Einsatz die Spannung des Fernorchesters nahtlos aufnehmen und weiter ausgestalten. Und wie sie das tun, das ist absolute Extraklasse, für die sich Simon Halsey, Gregor Meyer und Howard Arman (letzterer federführend) ein Sonderlob verdient haben. Chailly singt die Chorpassagen sogar selber mit, während die Solistinnen aus den angeführten Gründen unbewertbar sind. Ab "Sterben werd' ich, um zu leben" strebt dann alles einem fulminanten Höhepunkt entgegen, Schweißausbrüche, Gänsehaut und Tränen nacheinander oder auch gleichzeitig erzeugend - unbeschreiblich. Die Spannung im Publikum entlädt sich explosionsartig in sofortigen Bravorufen, kaum daß der Schlußton verklungen ist. "Mahler+Chailly=Weltklasse"? Ja - wenn auch leider nur in diesem letzten Satz. Dort aber im Höchstmaß.



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