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Jutta Toelle: Oper als Geschäft
von rls anno 2008

Jutta Toelle: Oper als Geschäft

Oper kostet Geld. Viel Geld sogar, mehr auf alle Fälle als sagen wir mal Sinfonik oder gar Kammermusik. Das ist nichts Neues, das war schon früher so. Jutta Toelle legt nun aber keine komplette Finanzgeschichte der Oper vor, sondern konzentriert sich auf einen Ausschnitt, der im Untertitel wie folgt umschrieben wird: "Impresari an italienischen Opernhäusern 1860-1900". Der Impresario, das muß vorausgeschickt werden, ist so etwas wie der Vorgänger des modernen Opernintendanten, allerdings mit dem markanten Unterschied, daß er auch das finanzielle Risiko zu tragen hatte, im heutigen Kontext also eher einem Inhaber einer Konzertagentur entspricht, der wie jeder Bäcker oder Schraubenfabrikant zwingend auf Gewinnerzielung angewiesen ist, widrigenfalls sein betriebswirtschaftlicher Untergang droht. Letztgenanntes indes passierte fast allen Impresari, die in besagter Zeit an den drei betrachteten italienischen Opernhäusern in Mailand, Parma und Venedig arbeiteten. Sie hatten gleich mehrere Probleme, die Jutta Toelle ausführlich analysiert: zumeist nur Saisonverträge (was ein langfristiges Planen und Arbeiten unmöglich machte), horrende Gagen für Gesangsstars, nur kurze Planungszeiträume, die Unberechenbarkeit der Publikumsreaktionen, politische Verwerfungen (man erinnere sich, daß zu besagter Zeit der italienische Nationalstaat noch in den Gründungswehen lag und beispielsweise Venedig erst 1866 zu Italien kam), die chronische Unterversorgung mit Eigenkapital (was nur bei einigen Impresari, die noch weitere gut gehende Standbeine hatten, kein entscheidendes Problem darstellte) und schließlich die chronische Unterversorgung mit Drittmitteln staatlicher oder privater Natur, denn schon damals reichten die Abendkasseneinnahmen zur Deckung der Unkosten bei weitem nicht aus, was noch heute so gut wie keiner Opernaufführung gelingt. Die einzelnen Impresari standen in den Theatern jeweils vor unterschiedlichen Situationen, schon allein strukturell: Während das Teatro La Fenice in Venedig ein reines Privattheater war, handelte es sich beim Teatro Regio in Parma um ein ehemaliges herzogliches Haus, und die berühmte Scala in Mailand war wiederum anders strukturiert. Auch die Erwartungen des Publikums unterschieden sich, die Konkurrenzsituationen in den drei Städten, auf die Jutta Toelle sich beschränkt (Neapel und Rom, die zwei anderen Theaterzentren Italiens, spielen also nur Nebenrollen), ebenfalls, und schon damals erwartete das Publikum wie selbstverständlich eine völlige Verletzung des ökonomischen Prinzips, nämlich erstklassige Oper zum minimalen Preis. Als strukturelle Schwierigkeit kam hinzu, daß die Verleger Ricordi und Sonzogno quasi den Opernmarkt unter sich aufgeteilt hatten und im Regelfall die Rechte ihrer Werke für eine Saison an Theater X nur dann herausrückten, wenn man die komplette Saison mit ihren Werken bestritt. Das führte im Extremfall dann dazu, daß die Verleger, teils direkt, teils über Mittelsmänner, in einigen Spielzeiten selbst zu Impresari wurden - aber selbst sie schafften es nicht, das System auf eine wirtschaftliche Basis zu stellen, und wie beschrieben ist das ja bis heute nicht gelungen, wenngleich die neuen Verwaltungssysteme den einen oder anderen Unsicherheitsfaktor mittlerweile ausgeräumt haben.
Anhand umfangreicher Quellenstudien in den lokalen Archiven in Mailand, Parma und Venedig (mit unterschiedlichem Sortierungsgrad, aber in jedem Falle noch hoher "Schatzdichte", wie die Autorin betont und wie man ja beispielsweise mit der Wiederentdeckung von Otto Nicolais Oper "Il Templario" in einem ebensolchen Archiv bewiesen bekommen hat) zeichnet Jutta Toelle das Bild des Opengeschäfts im Italien des angegebenen Zeitraums, sich dabei eher auf die Fakten stützend, aber die eine oder andere philosophische Überlegung zum Thema "Kunst und Kommerz" mit einstreuend, wobei auch diese Diskussion so alt ist wie die Kunst selbst (der Rezensent hat hier gerade "Shogun", das neue Trivium-Album, im Player liegen, und diese Band kann von dieser Diskussion mehr als nur ein Lied singen). Natürlich kommt der Anekdotencharakter insgesamt nicht zu kurz, und so liest sich diese eigentlich wissenschaftlich konzipierte Arbeit unterm Strich auch sehr unterhaltsam; einzig in den hinteren Kapiteln beginnen sich manche Dinge im Kreis zu drehen, weil sie bereits in vorigen Kapiteln angeklungen sind. Und völlig erstaunt liest man, daß es Zeiten gab, in denen die Nichtöffnung eines Opernhauses noch als ein Mittel politischen Protestes dienen konnte (hier in Venedig, wo La Fenice aus Protest gegen die habsburgische Herrschaft fast ein Jahrzehnt lang nicht spielte) - heutzutage ein fast unvorstellbares Szenario. Interessanterweise hat die Autorin die italienischen Zitate ins Deutsche übersetzt, die englischen aber nicht, offenbar also voraussetzend, daß das heutige Opernpublikum (denn niemand anders kommt als Zielgruppe des Buches in Frage) dieser Sprache mächtig ist - eine grenzgängerische Überlegung, wenn man bedenkt, daß das heutige Opernpublikum noch nicht einmal einer plakativen Bildersprache mächtig ist, wie man justament einen Tag vor Niederschrift dieser Rezension beim "Fliegenden Holländer" in der Leipziger Oper miterleben konnte bzw. mußte. Gemäß der Schilderung der Autorin gehen die kleintumultuarischen Zustände in Leipzig im Vergleich mit denen damals in Italien aber noch als paradiesisch durch - dort kam es reihenweise zum Abbruch von Veranstaltungen, wenn ein Sänger eine Arie auch nur leicht versägte, von den Inszenierungen ganz zu schweigen. Da haben wir's heute doch schon recht gut ...

Jutta Toelle: Oper als Geschäft. Impresari an italienischen Opernhäusern 1860-1900. Kassel et al: Bärenreiter 2007 (Musiksoziologie 15). 272 Seiten. ISBN 978-3-7618-1365-2. 34,95 Euro
 






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