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Der fliegende Holländer   11.10.2008   Leipzig, Oper
von rls

Das Genre der Horrorkomödie ist kein einfaches, und das aus zweierlei Gründen. Zum einen genügt es eben nicht, schreckliche und lustige Elemente aneinanderzureihen, und zum anderen ist das Publikum in seiner Erwartungshaltung herausgefordert. Üblicherweise geht man entweder in einen Horrorfilm, um sich gepflegt zu gruseln, oder in ein Lustspiel, um zu lachen. Aber beides gleichzeitig erscheint oftmals so sinnfällig, als würde man in einen Erotikfilm plötzlich Aufnahmen von der jüngsten Schachweltmeisterschaft hineinschneiden oder "Die blaue Lagune" mit Szenen aus Stalingrad garnieren. Die Oper Leipzig nun hat es gewagt, aus Richard Wagners "Fliegendem Holländer" eine Horrorkomödie machen zu wollen. Nimmt man allein die Reaktionen des Premierenpublikums als Anhaltspunkt, so sind Regisseur Michael von zur Mühlen und seine Denkmannschaft damit gnadenlos untergegangen. Aber ganz so einfach gestaltet sich die Sache dann doch nicht.
Da wäre als erstes die Meinung des bekanntermaßen äußerst konservativ eingestellten Leipziger Publikums zu relativieren. Das hatte schon vor einem Jahr mit einer noch recht traditionell anmutenden, wenngleich "verschlankten" Inszenierung von "Rienzi" so seine Probleme, weil es beim Stichwort "Wagner" offensichtlich immer noch äußerst traditionalistisch denkt, Historienfestspiele mit Mantel und Degen erwartet und sich auf alles andere gar nicht erst einlassen möchte. Der arrangementseitig fast "leere" "Rienzi" bot für dieses Klientel, das bei beiden Premieren offensichtlich die übergroße Mehrheit stellte, zumindest noch keine Angriffspunkte - die vorliegende äußerst experimentelle Fassung von "Der fliegende Holländer" dagegen schon. Damit aber zum nächsten Punkt: Wer das Programmheft schon vor Beginn der Aufführung zumindest ausschnittweise gelesen hatte, dem erschlossen sich etliche Szenen völlig problemlos, während diejenigen, die das offenbar nicht getan hatten, sich dazu berufen fühlten, während der Vorstellung ihren Unmut über Dinge, die sie nicht verstehen konnten oder wollten, kundzutun, so daß die Vorstellung eine aufgeheizte Atmosphäre bekam und kurz vor dem Abbruch stand. Die zwei Exklusivbeiträge von Carl Hegemann und besonders Daniel Illger (der über die Parallelen zwischen Wagners Untoten und den Untoten im modernen Zombiefilm referiert) hätten eigentlich jeden Zuschauer auf eine kraß-plakative Aufführung vorbereiten müssen, und ebendie gab es letztlich auch. Schon das Bühnenbild erinnerte an eine Mixtur aus "Metropolis" und "1984", und die Videoeinspielungen bildeten noch einmal ein Kapitel für sich. Nachdem man während der Ouvertüre bemerkt hatte, daß sie in puncto Dynamik nicht auf die Musik abgestimmt waren, mußten sie also eine andere Funktion erfüllen, und die erschloß sich spätestens in der Szene, als Daland und der Holländer vereinbaren, daß letztgenannter gegen eine ansehnliche Summe Geldes Dalands Tochter heiraten dürfe. Untermalt wurde diese Szene videoseitig mit ästhetisch zugegebenermaßen recht krassen Bildern aus einem Schlachthof, was den ersten großen Tumult im Publikum erzeugte. Rein zufällig las der Rezensent am gleichen Abend noch das Buch "Theorie der Unbildung" von Konrad Paul Liessmann, wo der Autor zu Recht feststellt, daß in der heutigen Gesellschaft der erste und zweite Wirtschaftssektor, also Landwirtschaft und Industrie, fast völlig aus dem Gesichtskreis der meisten Menschen ausgeblendet werden, obwohl man deren Erzeugnisse wie selbstverständlich nutzt. Jeder kauft Wurst im Supermarkt oder beim Fleischer - aber daß es sich dabei um totes Tier handelt, das zwangsläufig vorher getötet worden sein muß, blendet man aus. Weiteres typisches Anzeichen für diese gedankliche Ausblendung: die ähnlich irritierten Reaktionen, als die Frauen bei Dalands Heimkehr nicht etwa friedlich spinnen, sondern Gulasch aus Frischfleisch zubereiten (auch das hätte vor 150, 100 oder selbst 50 Jahren noch niemanden gestört, sondern wäre als etwas völlig Natürliches empfunden worden), oder in der gleichen Szene, als Senta ihre Kleider in Blut tränkt - in den Augen der Premierengesellschaft, von der neben dem Rezensenten garantiert maximal eine einstellige Zahl schon mal selber ein Huhn geschlachtet hat, offensichtlich ein Sakrileg (man rufe sich mal die Reaktionen auf Mel Gibsons "Die Passion Christi" ins Gedächtnis!), für das aber wieder die Lektüre des Programmheftes nützlich gewesen wäre, diesmal des Hegemann-Beitrages, in dem dieser auf Sentas Opfertod eingeht, wonach man diese Szene als fast schon zu plakatives Bild für den Opfertod hätte erkennen müssen. Zurück zur Videoeinspielung: Die Schlachthofbilder, gekoppelt mit Bildern des Geldzählens, hätten die große Erleuchtung bringen können: Assoziative Wortbildung war gefragt, hier ein Kuhhandel (in der Szene auch noch plakativ unterstützt durch ein Goldenes Kalb, das der Holländer an Daland übergibt), in der nächsten Szene mit einer spanischen Internetadresse und einer animierten Folge von sich bewegenden Wänden hätte man auf "Spanische Wand" kommen müssen usw. Große Teile des Publikums verstanden das offenbar nicht (oder anders), und so sorgte auch die letzte große Videoszene eher für Kopfschütteln: Die Mannschaft des Holländers, die von der Hochzeitsparty geworfen wird, rächt sich, indem sie erst die Bühne zerlegt und dann als Zombies per Film durch Leipzig zieht, eine Spur der Verwüstung hinterläßt und schließlich im Dunkel der Hauptbahnhof-Osthalle verschwindet. Hierfür wäre wiederum der Illger-Artikel zum Verständnis hilfreich gewesen, wobei man vom traditionellen Opernpublikum sicher nicht erwarten kann, daß es die überdeutlichen Anspielungen auf "Clockwork Orange" erkannt hat - aber die auf die noch gar nicht so lange zurückliegende "Politik der verbrannten Erde" schon.
Soweit, so gruselig. Nun hat Michael von zur Mühlen aber eben versucht, eine Horrorkomödie zu erschaffen, und das ist das eigentliche Problem der Inszenierung, denn viele dieser Elemente wirkten nicht lustig, sondern lächerlich. Das ging gleich zu Beginn mit dem ersten Auftritt des Holländers los, der mit schwarzen Gargoyleflügeln und einem Mikrofonständer als Verdeutlichung seiner Last wie eine Schießbudenfigur aussah, und James Johnson erntete hier für ein kaum merkliches Schulterzucken der Marke "Ich weiß nicht, was soll es bedeuten" spontanen Applaus seitens des Publikums. Als verzichtbare Zutat stellte sich auch ein Teil von Peggy Plätzers Auftritten als Halbnackttänzerin heraus - solange sie auf der Bühne in die Handlung eingebunden war, erhöhte das den Witzigkeitsgrad mancher Szene enorm, aber ihres Laufs durchs Publikum hätte es nicht bedurft, wohingegen man Sentas Ausflug ins Publikum während des Duells mit den anderen Frauen durchaus Symbolkraft beimessen konnte. Köstlich dagegen die Idee, Sentas und Eriks Szene im zweiten Akt eine Duschkabine als Ort zuzuweisen, zumal Erik auch noch als Beamtentyp mit hohem Verstaubtheitsgrad gezeichnet war - hier kam zum einzigen Mal richtiges Komödienfeeling auf, das den Terminus "Horrorkomödie" rechtfertigen konnte. Freilich: Auch diese Szene war an Plakativität kaum zu überbieten - aber das schien eines der Grundprinzipien der Inszenierung zu sein: Plakativität as Plakativität can. Das kann man mögen oder auch nicht, aber man muß dann eben auch mit allen Konsequenzen rechnen, wobei sich die Dramaturgiemannschaft hier partiell schon zurückgehalten hat (einige Sachen hat man dann auch eher verdeckt eingebaut - wem beispielsweise ist aufgefallen, daß an Dalands Händen in der Szene, als er Senta an den Holländer übergibt, Blut klebte?). Aber hätten die Frauen den Gulasch GWAR-like auch noch ins Publikum geworfen, hätte die Oper wohl mit der einen oder anderen Schadenersatzklage rechnen müssen, noch zusätzlich zu denen, die von einigen derjenigen angekündigt wurden, welche die Vorstellung vorzeitig verlassen hatten. Und hier ist dann die Zeit gekommen, endgültig den Stab über Teilen des Publikums zu brechen. Bei dieser Premiere hatte sich immerhin die selbsternannte oder auch tatsächliche Haute couture versammelt - und daß sich die unflätiger benahm als eine x-beliebige Kindergartengruppe oder als eine gemischte Teeniegruppe mit sozial prekärer Tendenz beim ersten Kinobesuch von "Dirty Dancing", das war der eigentliche Skandal dieser Aufführung (unflätiger während der Vorstellung, unflätiger auch danach, wie diverse Leserbriefe an die Leipziger Volkszeitung zeigten - einige stellten sich mit der Wortwahl "entartete Kunst" gleich völlig ins Abseits).
Wie sah es musikalisch aus? Das Gewandhausorchester, das im Graben saß, verrichtete einen tadellosen Job (Dirigent Leopold Hager wurde nur deshalb ausgebuht, weil ihn der negativ aufgeladene Teil des Publikums mit einem Mitglied der Inszenierungsmannschaft verwechselte), tat bisweilen indes etwas zuviel des Guten, so daß speziell James Johnson als Holländer akustisch häufig baden ging - allerdings ließ gerade seine Leistung im Duett mit Senta auch etwas zu wünschen übrig, denn von der sich entwickelnden Harmonie zwischen den beiden war dort nichts zu spüren. Senta aka Edith Haller wiederum erntete die einzigen Bravorufe des Abends, wobei allerdings auch sie noch Reserven offenbarte, gerade in der großen Verzweiflung zum Schluß, die deutlich zu angestrengt herüberkam. James Moellenhoff gab einen ordentlichen stimmgewaltigen Daland, auch Michael Baba als Erik überzeugte, was man von Susan Maclean als Mary und besonders Dan Karlström als Steuermann nur bedingt sagen kann, denn speziell letzteren hörte man gegen das Orchester nahezu gar nicht. (Skurrilerweise bescheinigten diverse Rezensentenkollegen dem letzteren eine erstklassige Leistung - entweder haben sie auf akustisch deutlich anders konditionierten Plätzen gesessen, oder es war eine Wunschvorstellung ...) Bäume ausgerissen hat also niemand, auch der bisweilen etwas zu untighte Damenchor nicht, wohingegen der Herrenchor seine Sache insgesamt sehr gut machte. Musikalische Gründe, sich diesen "Holländer" noch einmal anzusehen, wenn man ihn schon 23mal gehört hat, gibt es also nicht (allerdings auch keine, ihn sich nicht anzusehen, wenn man ihn noch nicht so oft gesehen hat!), und bezüglich der Inszenierung muß man halt vorher wissen, was einen erwartet, und ein gerüttelt Maß an Plakativität (nicht mit Primitivität zu verwechseln!) ertragen können. Das Premierenpublikum konnte dies wie beschrieben über weite Strecken nicht (mancher mag noch danach extra verstört worden sein, als beim Verlassen des Opernhauses eine gröfaz-kompatible Stimme aus Lautsprechern über den Augustusplatz hallte und äußerst martialische Statements Wagners über Erlösung und Revolution koppelte - und das zwei Tage nach dem Gedenken an die friedliche Revolution vom 9. Oktober 1989, als ganz andere Parolen über den Platz hallten), und es bleibt abzuwarten, wie es den Besuchern weiterer Vorstellungen ergehen wird. Termine und alle weiteren Informationen gibt's auf www.oper-leipzig.de
PS: Zwei Tage nach der Premiere kam folgende Pressemitteilung: James Johnson habe sich aus der Inszenierung zurückgezogen (ab November wird mit einem Ersatzmann weitergespielt), und die Videoeinspielung würde auf den Stand der Generalprobe zurückgefahren, da die Gewaltszenen der Premierenfassung nicht mit der Opernleitung abgestimmt gewesen seien. Über den Inhalt dieser Pressemitteilung und so Dinge wie "Ursache", "Wirkung" etc. mache sich jetzt jeder seine eigenen Gedanken ...



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