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Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung
von rls anno 2008

Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung

"Bildung ist, zu wissen, daß Ajax ursprünglich kein Scheuermittel und Credo ursprünglich kein Deodorant war", ulkte man noch in den frühen 1990er Jahren. Aber das Lachen blieb einem in späterer Zeit förmlich im Halse stecken. Vielleicht hatte man zwischenzeitlich Adornos "Theorie der Halbbildung" gelesen (und Halbbildung, das wußte schon Lenin, ist die gefährlichste Form der Bildung), vielleicht auch nur die PISA-Studie wahrgenommen, vielleicht dem permanenten Ausrufen des Bildungsnotstandes von Politikern aller Farben das eine oder andere Ohr geliehen. Und nun kommt auch noch Konrad Paul Liessmann, einer der unbequemeren Denker der heutigen Zeit, daher, im Gepäck die "Theorie der Unbildung", die man nach der Lektüre eigentlich in "Praxis der Unbildung" umtaufen müßte, und das nicht etwa, weil die Lektüre etwa zur persönlichen Unbildung beigetragen hätte, wie der Spötter mutmaßen könnte.
Liessmann braucht nur 176 Seiten im relativ kleinen Buchformat, um den Leser nachhaltig zu verstören, indem er das ausspricht (bzw. niederschreibt), was man eigentlich schon seit geraumer Zeit geahnt hatte. Es gab mal Zeiten, als "Bildung für alle" nicht nur als Ziel ausgegeben, sondern auch zu realisieren versucht wurde, freilich aufgrund des idealisierten Zieles und des nicht dazu kongruenten Menschenmaterials nie wirklich erreicht werden konnte. Aber der Wille war da, und er wurzelte im klassischen Bildungsideal der Antike, das die Humanisten vergangener Generationen wie etwa Wilhelm von Humboldt quasi in- und auswendig konnten und auf dem Liessmann permanent, vielleicht etwas zu penetrant herumreitet. Freilich: Die Menschen in der Antike wie die Zeitgenossen Humboldts hatten den Vorteil, daß ihr Horizont gegenüber dem heutigen noch etwas eingeschränkter war und sie vor einem deutlich geringeren Wissensberg standen - zu solchen Zeiten konnte es sogar noch Universalgelehrte geben, wenngleich dieser Typus in Humboldts Ära schon vom Aussterben bedroht war. Heute ist ein Komplettüberblick selbst in eingenischten Wissensarealen praktisch unmöglich - oder kennt jemand in der Tat die kompletten Diskographien aller auf www.metal-archives.com verzeichneten 1900 polnischen Metalbands auswendig? Eben. "Auslagerung von Wissen" heißt ein heutiges Schlagwort, man müsse nur wissen, wo man was findet, und so entsteht der "Wissensmanager" als neues Berufsfeld. Den freilich mag Liessmann nicht und möchte ihn von der Erdoberfläche verbannt wissen, was er auch pointiert begründet, ohne allerdings eine Alternative aufzuzeigen. Antik-klassische Bildung hin oder her: Die Ausgangslage ist eine völlig andere und das Anwenden von Methoden etwa aus der Systematik, der Systemtheorie oder auch des modernen Managements zur Verwaltung des Wissens daher keinesfalls das Sakrileg, als das Liessmann es hier zu brandmarken versucht.
Nun ist allerdings das Problem, daß man solche methodologischen Übernahmen heutzutage praktisch ungehemmt und unreflektiert durchführt, und an dieser Stelle bekommt Liessmanns kulturkämpferische Argumentation dann doch ihre Berechtigung. Speziell mit der Quantifizierung von Bildung setzt sich der Autor auseinander und stellt dieser ein sehr schlechtes Zeugnis aus - wer beispielsweise nur aufs Ranking schielt oder schielen muß (und das muß heute jeder, weil alles Mögliche und Unmögliche gerankt wird), wird mehr Energie aufs gute Abschneiden nach den Rankingskriterien als auf seine eigentliche Bildung (oder die anderweitigen ihm übertragenen Aufgaben) verwenden. Das kennt der Rezensent aus eigener Erfahrung: Er gehörte zum ersten Jahrgang an sächsischen Gymnasien, der ab 1992 nach dem neuen Kurssystem unterrichtet wurde - und einige seiner Mitschüler waren mehr mit Rechenexempeln, welche Kurse sie in die Abiturwertung einbringen sollten, als mit den Exponentialfunktionen oder irrationalen Zahlen, mit denen sie sich eigentlich beschäftigen sollten, befaßt. Kann man über dieses kleine Beispiel noch lächeln, so erstirbt das Lachen, wenn man sich ansieht, daß europaweit Universitäten viel von ihrer Manpower für genau die gleichen Gedankenspiele einsetzen (müssen), um in bestimmten Rankings nicht weit hinten zu landen. (Da wird heute allen Ernstes gefordert, Bildungsleistung zu quantifizieren - solche Blüten trieb weiland auch schon die Franz-Franik-Bewegung in der DDR der 50er Jahre, und was dabei herausgekommen ist, weiß man ja.) Das erzeugt dann aber wiederum eine Art Reformdruck - aufgrund sich ständig ändernder Anforderungen (und damit sind nicht die aus dem eigentlichen Arbeitsfeld der Universität gemeint!) wird ein System stets dann reformiert, wenn es gerade begonnen hat zu funktionieren. Einige Systeme freilich müssen nicht reformiert werden, denn sie funktionieren nie, so Liessmann - beispielsweise das System der Vergleichbarkeit von Hochschulabschlüssen in Europa. Wenn überall das Gleiche herauskommt, ist der angestrebte internationale Austausch obsolet - die Schattenseite der Standardisierung, dem Hauptangriffspunkt Liessmanns. Die systematische Ausrottung der Individualität ist keine neue Beobachtung, sondern eine zwangsläufige Begleiterscheinung der Industrialisierung, die auf Normierung und Standardisierung als einer ihrer Grundfesten beruht. Was in der Naturwissenschaft noch seine zumindest partielle Berechtigung hat (zumindest hat der Rezensent nichts dagegen, wenn auch in Zukunft alle Cornflakes gelb aussehen), macht Liessmann allerdings als den gefährlichsten Feind der Geisteswissenschaften aus. Und tatsächlich: Was bei uniformem Denken letztlich herauskommt, kann man z.B. in "1984" nachlesen. Die Kunst ist dann aber noch, das Denklevel möglichst niedrig anzusetzen - und damit sind wir dann wieder beim Stichwort der Unbildung, beim Neoanalphabetismus, auch bei der Ausländerintegration, in weiter gedachter Hinsicht dann sogar bei der sozialen Aushöhlung hin zu einem neuen, wenngleich verkleideten Manchesterkapitalismus. Daß Liessmann gelegentlich Marx heranzieht, paßt hervorragend ins Bild.
Freilich ist damit das Buch noch nicht erschöpfend beschrieben. Liessmann siedelt, obwohl er seine Argumentation von "Wer wird Millionär?" her aufbaut, seine Kritik hauptsächlich auf der universitären Ebene an, weshalb als ergänzende Lektüre (trotz partiell anderer Stoßrichtung) "Wittgensteins Klarinette" von Ulf von Rauchhaupt empfohlen sei. Apropos Fernsehen: Diesen heute tödlichsten Feind des antiken Bildungsideals läßt Liessmann argumentativ weitgehend außen vor. Dafür kommen einem andere Szenarien verdächtig bekannt vor, etwa die künstliche Niedrighaltung von Prüfungsanforderungen, um möglichst viele Absolventen "durchzuschleppen". Von dieser Sorte Teufelskreise zählt Liessmann noch etliche andere auf, und man ist fast erstaunt, daß er immer noch an der Universität Wien lehren darf und noch nicht auf dem inneruniversitären Scheiterhaufen verbrannt worden ist. Dem Leser, dessen wacher Instinkt noch nicht gänzlich verkümmert ist, soll es freilich recht sein, denn auch wenn Liessmann mitunter übers Ziel hinausschießt oder die Scheibe nur ankratzt, so hat er doch mit vielen seiner Schilderungen (leider) recht, und Wachsamkeit ist heute mehr als je zuvor angebracht. Schützenhilfe leistet hier übrigens eine unerwartete Seite, nämlich der Heavy Metal. Schon anno 1985 verewigten Warrior (auch noch Amis, von denen man das nun gar nicht erwartet hätte) auf ihrem bahnbrechenden "Fighting For The Earth"-Debüt ein Spoken Words-Stück namens "PTM-1". Hier der Text: "Where would we be without the ability to let our minds wander? And where would we go if our emotions were submerged down under our souls? Their master control plan will fail as the young minds prevail in pure genetic wisdom."

Konral Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Die Irrtümer der Wissensgesellschaft. Wien: Paul Zsolnay Verlag 2006. 176 Seiten. ISBN 978-3-552-05382-3. 17,90 Euro
 






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