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Il Templario   07.03.2008   Chemnitz, Opernhaus
von rls

Die Musikgeschichte kennt etliche Beispiele, bei denen ein Komponist nur mit einem einzigen Werk in den Spielplänen späterer Äonen überlebt hat. Otto Nicolai ist auch so ein Fall - allerdings hat das bei ihm den Hintergrund, daß sein komplettes Opernschaffen, mit dem er im zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts triumphale Erfolge feierte, verschollen ist, "Die lustigen Weiber von Windsor" als einzige Ausnahme belassend, die sich noch heute großer Beliebtheit an den Musiktheatern erfreut. Der Berliner Musikwissenschaftler Michael Wittmann fühlte sich von dieser Situation nun aber angeregt, nach dem Verbleib der anderen Nicolai-Werke zu forschen - sein Gedankengang, daß in den Theaterarchiven der damaligen Zeit hier und da vielleicht noch Material erhalten sein könnte, bewahrheitete sich, und so kam es zur Wiederentdeckung von "Il Templario", einer 1840 in Turin uraufgeführten und bis 1880 praktisch in allen musikalischen Zentren der mediterranen Welt und auch in einigen mitteleuropäischen Städten inszenierten Oper nach dem klassischen Ivanhoe-Stoff von Sir Walter Scott. Noch vor Ende des 19. Jahrhunderts geriet die Oper weitgehend in Vergessenheit, wurde 1937 in einem Berliner Verlagsarchiv wiederentdeckt und von Joseph Goebbels höchstpersönlich für propagandistisch geeignet befunden - allerdings nur nach einer Umarbeitung, die aus der zentralen jüdischen Figur Rebecca eine rassisch weniger bedenkliche Sarazenin gemacht hätte. Zu dieser Umarbeitung kam es nie, das Verlagsarchiv verbrannte im Zweiten Weltkrieg, und abermals blieb die Oper im Dunkel der Musikgeschichte, bis anno 2006 Michael Wittmann sich auf die Suche machte und an mehreren Stellen hauptsächlich in Südeuropa fündig wurde. Die Chemnitzer Bühne griff zu, als ein aufführungsreifer Arbeitsstand erreicht war, und so sollte es nach wahrscheinlich fast 130 Jahren erstmals wieder zu einer Aufführung von "Il Templario" kommen.
Die Premiere ist nahezu, aber nicht ganz ausverkauft, und das Publikum harrt gespannt der Dinge, die da kommen. Auftakt ist gemäß traditionellem Schema eine Ouvertüre, die in klassischer ABA-Form gehalten ist, einen schön schwelgerischen Mittelteil mit cooler Holzarbeit von zwei Teilen umrahmen läßt, die ein wenig wienerisches Kolorit einspritzen. Der Dramatikfaktor bleibt mäßig, und so ergibt sich das Bild eines hübschen, aber nicht weltbewegenden Stückes Musik, dem man nichtsdestotrotz zutrauen würde, ein Eigenleben als Konzertstück zu führen. Drei Akte hat das Werk, deren erste beide sich weitgehend an die Scottsche Vorlage halten, während Nicolai, der selbst die Umarbeitung der Romanvorlage als Libretto vorgenommen hat (das konkrete Verseschmieden allerdings Girolamo Maria Marini überließ), im dritten Teil einige Abweichungen einbastelt und das Ganze übrigens so ausgestaltet, daß er mit gerade einmal sieben Akteuren (plus Chor) auskommt. Die Handlung dürfte allgemein bekannt sein, so daß an dieser Stelle eine kurze Auffrischung genügt: Vilfredo d'Ivanhoe, von seinem Vater Cedrico il Sassone wegen Kollaboration mit der Besatzungsmacht verstoßen, gewinnt nach seiner Inkognito-Rückkehr ein Ritterturnier gegen den als unbesiegbar geltenden Tempelritter Briano di Bois-Guilbert, verliebt sich in Cedricos Pflegetochter Rovena und wird seinerseits von der Jüdin Rebecca angehimmelt, die ihn in Israel gesundgepflegt hatte und ihm mit ihrem Vater Isacco di York nach England gefolgt ist. Briano wiederum verknallt sich in Rebecca, was strukturelle Probleme bezüglich seines Ordensgelübdes hervorruft und den Ordensgroßmeister Luca di Beaumanoir zu Disziplinarmaßnahmen nicht etwa gegen Briano, sondern gegen Rebecca nötigt. Vilfredo gewinnt den Zweikampf um Rebeccas Ehre gegen Briano erneut, der dabei ums Leben kommt; Rebecca aber, die Vilfredo nicht von Rovena loseisen kann, besteigt letztlich freiwillig den ihr von Luca zugedachten Scheiterhaufen. In einem an Klassizität nicht mehr zu überbietenden Aufzug wird der Chor gleich zu Beginn in große Höhen getrieben, bevor Vilfredos Auftrittsarie erklingt - wieder ein schönes Prüfungsstück für den Competizione dell'Opera Dresden mehr. Tenor Stanley Jackson in der Rolle des klassischen Helden singt schön, läßt sich aber noch Steigerungsmöglichkeiten offen, gerade in den Höhen klingt er anfangs noch deutlich zu gequält, was sich im Verlaufe der Oper aber bessern soll. Akustisches Durchsetzungsvermögen hat er jedenfalls genügend. Interessant übrigens: Man hat hier einen Afroamerikaner als Ivanhoe besetzt. Das spricht wahlweise für oder gegen das Chemnitzer Opernteam, denn wenngleich eine solche Besetzung heute keinen Skandal mehr hervorruft wie vor 47 Jahren Grace Bumbry in Bayreuth, so ist sie in einer konsequent historisch aufgefaßten Inszenierung (und eine solche liegt hier vor - dazu später noch mehr) irgendwie fehl am Platze (in einem Historiendrama über die alten Germanen würde man auch keinen japanischen Schauspieler einsetzen) - andererseits verdienen die Chemnitzer Respekt für den Mut, diese Besetzung zu wagen, wo sich doch der Osten Deutschlands in vielen Köpfen der ganzen Republik eher als politisch statt hautfarbeseitig braun determiniert hat (über die Gründe und die Rechtmäßigkeit dieser Determination soll hier nicht diskutiert werden - jeder schalte sein eigenes Hirn ein). Wie gesagt: Rein musikalisch gibt es an dieser Besetzung wenig auszusetzen, Jackson steigert sich bereits in der Lobgesangspassage, die auf die Arie folgt und fast Elgar-verdächtigen Pomp auffährt. Oberdramatisches Blech unterlegt Brianos ersten Auftritt, und Hans Christoph Begemann legt eine gute, eher flächig angelegte stimmliche Leistung auf die Bretter, für die ein völlig paradoxer Vergleich greift, den kaum jemand der Anwesenden nachvollziehen können wird, denn die Verbreitung von Kirill Njemoljajews CD "Komitscheskije Kuplety" in klassisch orientierten Publikumskreisen dürfte gegen Null gehen. Wenn Njemoljajew jedenfalls einen fast gelangweilt-gähnenden Unterton annimmt, ähneln sich seine und Begemanns Stimmfärbung stark. Auch Begemann kann sich akustisch annehmbar durchsetzen, was für den Nonnenchor nicht gilt; auch Judith Kuhn legt eine gute, aber nicht weiter weltbewegende Rovena hin, und Tiina Penttinen als Rebecca ähnelt Rovena stimmlich eigentlich viel zu sehr; der Spielcharakter der Szene, als sie vor Brianos Verfolgung vorerst gerettet ist und sofort wieder Oberwasser hat, gelingt auf geniale Weise doppelbödig, so daß die Sympathien hin und her fliegen. Der große Sechserchoral vor der Entführung klingt leicht unkoordiniert, bevor das strukturierte Chaos in der Entführungsszene, die den ersten Akt beendet, dann aber erstklassig umgesetzt wird und die Spannung für die beiden anderen Akte, die dann ohne Pause erklingen gut aufrechterhält. Akt II hat nur eine kurze Ouvertüre erhalten, deren Flötensolo auf das Cellosolo vor Brianos erster Arie aus Akt I zurückverweist, dunkle Wolken hängen über der Szenerie, und Tiina Penttinen sammelt gesangliche Pluspunkte mit einer hochemotionalen Umsetzung von Rebeccas Traumarie. Skurrile Momente beschert Nicolai Briano und Rebecca, die sich verbal duellieren müssen, musikalisch auf die gleichzeitig gesungenen Zeilen "Dein Frevel bleibt nicht ungestraft" (Rebecca)/"Für dich allein will ich leben" (Briano) aber eine schöne klassisch harmonisierte Struktur intonieren. Andreas Kindschuh als Templer-Großmeister trägt wohl nicht umsonst ein spanisches Bärtchen; seine Rolle hat Nicolai eher deklamierend als sanglich ausgestaltet, so daß seine Bewertung schwierig ist; sein Dominanzfaktor fällt jedenfalls auffällig niedrig aus, was geplant gewesen sein könnte (der Obertempler ist sich alles andere als sicher, wie er mit dem Problemkreis umgehen soll), aber nicht muß. Die ordentliche Verzweiflungsarie Brianos bringt ein meilenweilt gerolltes r in "morte" zu Gehör, der Dramatikfaktor des Aktschlusses läßt diesmal aber zu wünschen übrig. Das ist aber noch nichts gegen die Versöhnungsszene zwischen Vilfredo und seinem Vater und die anschließende Liebeszene Vilfredos und Rovenas - dramatisch ist hier gar nichts mehr, was vom Komponisten aber so intendiert gewesen sein dürfte, der kübelweise Schmalz über die Szenen ausschüttet, die in jeden Rosamunde-Pilcher-Roman gepaßt hätten: totaler Kitsch, wenngleich nett und für frisch Verliebte sicher passend. Für alle anderen hat wenigstens die Übertitel-Abteilung noch einen humoristischen Pfeil im Köcher, indem die deutschen Übertitel staubtrocken ausfallen und so im skurril-lustigen Kontrast zum gefühlsduseligen Geschehen auf der Bühne stehen. Hat man sich vom innerlichen Lachanfall wieder erholt, fällt einem auf, daß das Signal, das zum ritterlichen Streit um Rebeccas Ehre und damit über ihr Scheiterhaufen-oder-nicht-Scheiterhaufen-Schicksal ruft, einem der beiden großen Hochzeitsmärsche des 19. Jahrhunderts entlehnt ist (was Zufall sein dürfte). Vilfreds unerwartetes Erscheinen kurz vor Ablauf der gesetzten Frist erfährt eine musikalisch gelungene dramatische Umsetzung, auch Rebeccas choralartige Arie funktioniert, was den völlig im undramatischen Nichts versumpfenden Schluß umso paradoxer wirken läßt - immerhin landet Rebecca freiwillig doch noch auf dem Scheiterhaufen, und irgendwie haben am Ende alle verloren: Briano und Rebecca das Leben, Isacco seine Tochter, Vilfredo das Ziel des letzten Kampfes gegen Briano, Cedric seine Prinzipienfestigkeit, Rovena das Ergebnis ihrer diplomatischen Bemühungen und Luca einen seiner besten Streiter. Eine Oper der Loser sozusagen, was man vorher eigentlich so nicht erwartet hatte, obwohl man die Scottsche Geschichte und ihren geringfügig anderen Schluß tendenziell ja kennt.
Die musikalische Fraktion samt Dirigent Frank Beermann erntet ausnahmslos lauten Applaus, Regisseur Ralf Nürnberger und Kostümbildnerin Claudia Rühle müssen jedoch neben Applaus einige Buhrufe quittieren. Warum? Das hat mehrere Gründe, die alle auf ein Prinzip hinauslaufen: 97% der Oper sind rund und stimmig - aber die anderen 3% verunstalten den Gesamteindruck teils massiv. Da wäre das Farbmanagement zu nennen. Generell setzt die Inszenierung auf eine Kombination dreier Farben: Schwarz, Weiß und Rot, alle drei in entsprechenden Abstufungen. Politische Hintergründe sind damit natürlich nicht verbunden (wir befinden uns mit der Handlung ja nicht im Bismarck-Reich), aber die Kombination stimmt - mit drei Ausnahmen, von denen zwei das komplette Konzept zum Kippen bringen. Die dezent blaugrauen Burgwände sind nicht das Problem, wohl aber der schräge grüne Kunststoffblitz in der Schlußszene über dem Scheiterhaufen und die leuchtend gelb lackierten Gartenmöbel vor Rovenas Burg im ersten Akt. Der eigentliche Knackpunkt der Inszenierung aber liegt in Brianos Burg am Anfang von Akt II, wo Rebecca gefangengehalten wird. Wer auch immer auf die Idee kam, dort handgeschriebene Schilder mit der Botschaft "Rebecca Ich liebe Dich" in vier Sprachen aufzustellen, darf sich ans Revers heften, die bis dahin (bis auf die Gartenmöbel) äußerst stringente historisch orientierte Aufführung mit dieser einen Idee komplett ins Lächerliche gezogen zu haben, wonach man sie bis zum Ende trotz der (bis auf den Blitz) wieder zurückkehrenden Stringenz nicht mehr ernstnehmen kann. Klar, Briano ist quasi in Teeniemanier verknallt in Rebecca und will sie mit allen Mitteln besitzen - aber das ist im 1. Akt schon anderweitig deutlich genug geworden, als daß man es noch mit dieser Peinlichkeit hätte unterstreichen müssen. Klischees verbrät die Inszenierung schon anderweitig genug, aber wenigstens historisch stimmige Klischees; Isacco etwa sieht exakt so aus, wie ein orthodoxer Jude noch heute in Jerusalem aussieht, und daß er gleich von 20 Templern festgenommen wird, als er versucht, Rebecca beim Großmeister zu retten, darf als kleiner politischer Wink mit dem historischen Zaunpfahl gewertet werden. Aber all das paßt sich perfekt in die konsequent historische Inszenierung ein - die einzigen Störfaktoren sind der farbige Ivanhoe und eben diese fürchterlichen Teenie-Schilder. Schade um den durch den letztgenannten Faktor nachdrücklich getrübten Gesamteindruck, denn generell ist diese Oper auf jeden Fall ein flächendeckendes Revival wert, und man kann sie sicherlich auch auf moderne Art und Weise inszenieren - aber wenn man sich für eine Linie entschieden hat, sollte man bei der auch bleiben und pseudokultige Einfälle eben nur in eine generell pseudokultige Inszenierung einbauen. Diesen Grundsatz haben die Chemnitzer leider verletzt, und so landen einige Flecken auf dem generell blütenweißen Tischtuch, aus dem im ersten Akt ein Brautschleier wird, dessen Versprechen am Ende nur partiell eingelöst werden kann. Trotzdem: Für die Wiederentdeckung solcher Werke sind Michael Wittmann und die Chemnitzer ausdrücklich zu loben und zu ermutigen, auf diesem Wege weiterzugehen - immerhin harren noch drei weitere Nicolai-Opern und Hunderte lohnende Werke anderer Komponisten in irgendwelchen Archiven darauf, der Vergessenheit entrissen zu werden.



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