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Elke Nolteernsting: Heavy Metal. Die Suche nach der Bestie
von rls anno 2003

Elke Nolteernsting: Heavy Metal. Die Suche nach der Bestie

Roccorismus. Hatte mancher geglaubt, nach der bahnbrechenden Studie "Heavy Metal. Kunst. Kommerz. Ketzerei" oder deren familienfreundlicher Kleinversion "Heavy Metal. Die Bands. Die Fans. Die Gegner" von Bettina Roccor wäre in puncto Soziologie das weite Feld des Metal eigentlich bereits abgegrast, möchte Elke Nolteernsting den Leser nun eines Besseren belehren. Der letzte Halbsatz darf nicht doppelsinnig verstanden werden - ausgehend vom damaligen Stand der Szene wäre eine Verbesserung der Roccorschen Arbeit nahezu unmöglich und allenfalls durch die Tatsache gerechtfertigt, daß seither einige Zeit ins Land gegangen ist und man deshalb Anlaß zu einer Entwicklungsbetrachtung, einer vergleichenden Analyse Damals versus Heute sehen könnte. Elke Nolteernsting ist aber einen anderen Weg gegangen (die Doppelsinnigkeit dieses Satzes wird später deutlich): Sie führte in den vergangenen Jahren zahlreiche Interviews mit Metalmusikern und -innen aller Herren Länder, exzerpierte diverse Quintessenzen dieser Interviews und verarbeitete sie in den Themenkomplexen "Die Vorgeschichte oder: Der Weg zum Metal-Musiker", "Sex, Drugs und Rock'n'Roll", "Die Lyrics: Graue Wirklichkeit, Mystik und Phantasien", "Die Fans oder: Verrückte Bastarde", "Reine Männersache oder: Frauen in der Metal-Musik", "Skandalgruppen des Metal" und "Metal-Life - Der Traumjob". Denke nun aber niemand an eine reine Statement-Sammlung - die Autorin wertet durchaus, vergleicht, stellt auch mal gegeneinander, moderiert also praktisch eine Talkshow mit einem guten Hundert von Gästen aus allen Sparten des Metal (selbst Dough Ingle von Iron Butterfly kommt zu Wort), von denen natürlich nicht jeder zu jedem Thema auch etwas Bemerkenswertes zu sagen hat (und somit also auch nur punktuell zu Wort kommt). Für jemanden, der von außen in die Szene "eingewandert" ist, hat Nolteernsting eine außerordentlich genaue Beobachtungsgabe und eine Art Gefühl für die Eigenheiten des Metal entwickelt, zudem vorher respektive parallel offensichtlich genaues Theoriestudium betrieben (da sich die Anzahl der sachlichen Fehler in sehr überschaubaren Grenzen hält). Zwar schränkt die Autorin zu Recht ein, sie könne die Aussagen der Musiker selbstverständlich kaum nachprüfen, so daß diese lediglich das Bild vermittelten, wie sich die Künstler in der Öffentlichkeit präsentieren WOLLEN, aber da der Imagefaktor im Metal erfreulicherweise auf der Intensitätsskala immer noch niedriger liegt als beispielsweise der in den Regionen eines Michael Jackson, darf man im Umkehrschluß den Aussagen der Metaller einen vergleichsweise höheren Authenzitätsgrad unterstellen als beispielsweise einer Jackson-Autobiographie (und das, obwohl auch Joey DeMaio, Dani Filth, Oscar Dronjak oder Shagrath zu den Interviewten gehören - wer hätte von Shagrath beispielsweise ein Statement der Marke "Ein Kind zu haben, kann ich mir schon vorstellen, und ich glaube auch, daß das ziemlich interessant ist, zuzusehen, wie es aufwächst" erwartet?). Fotos, Zeitungsausschnitte und Auszüge aus "Teenage Wasteland" von Dirk Buck (wenn ich mich recht erinnere, geht's dort zwar mehr um Punkrock, aber die hier reflektierten Passagen lassen sich durchaus auf den Metal übertragen) runden das Bild ab. Welches Bild? Der Untertitel "Die Suche nach der Bestie" assoziiert es auf plakative Weise, der "Spiegel" machte seinem Ruf als "Bild-Zeitung für Zahnärzte" (danke, Matthias Herr) mit dem Slogan "Hammermusik für Behämmerte" alle Ehre, mein Vater bezeichnete es Mitte der Achtziger liebevoll-resignierend als "Halbwildenmusik" (obwohl er Babylons "Geisterstunde"-Single freiwillig mit mir gemeinsam durchhörte), "I am the one you warned me of" sangen Blue Öyster Cult, und das geflügelte Wort "Sex & Drugs & Rock'nRoll" macht schon seit urewigen Zeiten die Runde - Nolteernsting kommt nach eingehender Betrachtung letztlich doch bei einer Relativierung dieses in vielen Köpfen festgesetzten "bestialischen" Bildes heraus. Zitat aus der Schlußbemerkung: "Es sieht letztlich so aus, als würde sich die Bestie Metal-Musik als harmlos erweisen, mit der Art und Weise ihres Ausdrucks in der Öffentlichkeit allerdings das Gegenteil hervorrufen. Metal-Musik steht exemplarisch für jede Art jugendmusikalischer Äußerung. Sie bedient sich rebellischer, überzogener Worte, Gesten und Melodien, die für Angehörige älterer Generationen unter Berücksichtigung ihrer Lebensumstände und Verhältnisse kaum erträglich sind. Die Kritiken an dieser Äußerungsform weisen dabei auf Seiten der Außenstehenden, aber auch der Medien, immer wieder darauf hin, daß sich die betreffenden Personen nicht die Zeit nehmen, sich ein genaues, auch internes Bild zu verschaffen und nur aus ihrem sozialen und intellektuellen Hintergrund heraus ihre persönliche Abneigung gegenüber dieser Musik darstellen, eine riskante Vorgehensweise in Bezug auf das Verständnis gegenüber Andersdenkenden." Das hat Bettina Roccor mit anderen Worten und anderen Methoden fast genauso (allerdings noch vielschichtiger) herausgearbeitet. Damit kann die Doppelsinnigkeit des oben erwähnten Satzes mittels eines Beispiels verdeutlicht werden: Roccor und Nolteernsting gleichen zwei Bergsteigern, deren einer den Westgrat, der andere den Ostgrat emporklimmt. Beide gehen verschiedene Wege, kämpfen mit verschiedenen Schwierigkeiten und haben auch unterschiedliche Ausblicke von unterwegs. Der Gipfelrundblick aber ist für beide der gleiche. Generell formuliert Roccors "Heavy Metal. Die Bands. Die Fans. Die Gegner" allerdings etwas "erwachsenenkompatibler", so daß man den Eltern als Erstlektüre eher dieses schenken sollte, während Nolteernstings Buch eine zwar generell sinnvolle, aber nicht in jedem Fall notwendige Ergänzungslektüre darstellt.

Elke Nolteernsting: Heavy Metal. Die Suche nach der Bestie. Berlin: Archiv der Jugendkulturen 2002. ISBN 3-936068-03-8. 128 Seiten. 15 Euro. Bezug über www.jugendkulturen.de






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