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Marillion, Lifesigns   19.07.2016   Berlin, Huxleys
von CSB

Es ist dann doch eher ungewöhnlich, wenn eine Band VOR Erscheinen eines neuen Albums auf Tour geht. Das neue Werk "F.E.A.R.", das im September erscheint, wird dann das insgesamt 18. Studioalbum dieser außergewöhnlichen Band sein. Als Quasi-Genesis-Coverband gestartet, schwangen sich Marillion zur ersten Instanz in Sachen Neoprog auf (und verbrachen mit "Kayleigh" einen Welthit) und schlugen doch nach der Trennung von Ursänger Fish völlig neue Wege ein. Ob Progressive, Artrock oder Ambient - es gibt derer viele Labels, die man dieser legendären Formation anheftet. Marillion machen jedenfalls auch im Jahr 2016 höchst atmosphärische, eindringliche Rockmusik, der man sich gerade live kaum entziehen kann. So hat diese Tour auch den Charakter einer Albumpromotion, zumal schon früh angekündigt wurde, dass ein guter Teil des Sets dem neuen Album gewidmet werde. Man durfte also gespannt sein!
Support sind die bemerkenswerten Neoprogger von Lifesigns, die zwar das ganz große Musikrad nicht unbedingt weiterdrehen, dafür aber richtig starke, traditionelle Progsongs am Start im Stil von RPWL, alten Genesis oder Spock's Beard am Start haben. Auch technisch macht den Jungs keiner was vor, immerhin hat man Leute wie Jon Young (Keyboard u.a. bei den Scorpions, Bonnie Tyler und Asia) oder Gitarrist Niko Tsonev (ex-Steven Wilson) in seinen Reihen. Gut zu Gesicht stände der Band womöglich noch ein vollwertiger Sänger, denn auch wenn Young seine Sache sehr ordentlich macht, ist er hinter seinem Keyboard-Turm gefesselt, was der Liveperformance nicht gerade zuträglich ist. Besonders eindrücklich ist das facettenreiche, mehr als überlange "At The End Of The World", das mit super Satzgesängen und beeindruckenden Instrumentalabfahrten aufwartet. Starker Auftakt!
Setlist Lifesigns
1. Lighthouse
2. Kings
3. At The End Of The World
4. Carousel

Marillion lassen sich dann ein wenig bitten und als sich dann endlich der mehr als gut gefüllte Raum verdunkelt und sich alle Blicke gen Bühne richten, folgt erstmal nur ein Trailer fürs neue Album … Der allerdings ist gut gemacht und zeigt die Band im Stummfilm-Frankenstein-Stil bei der "Erschaffung" ihres neuen Werkes. Besonders Steve Hogarth weiß als verrückter Professor zu beeindrucken - eine Rolle, die er ja auch im kurz danach folgenden Opener "The Invisible Man" einnimmt. Dieser sich immer weiter steigernde überlange Song, der ja seit "Marbles" zum festen Eröffnungsritual gehört, zeigt gleich auf, wohin die Reise geht. Schwelgerische Soundsamples treffen auf den jedes noch so kleine Loch zupumpenden Bass von Pete Trewavas und das songdienliche Spiel von Ian Mosley. Darüber liegen diese traumhaften Soli von Steve Rothery, der mit seiner Gitarre durch und durch verwachsen scheint. Zugeschnitten aber ist die Show vom ersten Moment an auf den exzentrischen Charismatiker Steve Hogarth, der seine Stimme einsetzt wie ein Multifunktionsinstrument. Mal brüllt er ins Mikro, dann wieder flüsternd, schmeichelnd, säuselnd - bis die Stimme beinahe versagt. Dabei gestikuliert Hogarth wie wild, sprintet über die Bühne, kniet, springt und windet sich und man muss sich ernsthaft Sorgen machen, wie der nicht mehr ganz junge Mann ein ganzes Set überstehen will ...
Danach folgen die etwas eingängigeren "You're Gone", "Power" und mit dem weitgehend vom Publikum gesungenen "Sugar Mice" schon früh im Set ein Song aus der Fish-Ära, der so auch von David Bowie stammen könnte. Mittelteil und zugleich Höhepunkt des Sets bildet dann aber das vierteilige Epos "The New Kings", welches in seinem ersten Teil dann auch gleich aufklärt, was es mit dem Albumtitel auf sich hat. "Fuck Everyone And Run" bildet seinen Kontrast im offensiven Titel und dem beinahe gehauchten Refrain, der auf all die verantwortungslosen Banker, Politiker und sonstiger Eliten abhebt, die uns gerade in Tagen des Brexits ganz besonders auffallen ... Auch die anderen Teile lassen Großes erahnen für das neue Werk - dynamisch, schwermütig und intensiv. Marillion geben vor, wie man mit durchaus sperriger Rockmusik auch nach 30 Jahren Bandgeschichte noch erfolgreich UND innovativ sein kann. Ein weiteres phänomenales Epos in Gestalt von "Neverland" beschließt dann das reguläre Set, in dessen Verlauf ich nur das verträumte "Fantastic Place" vermisst habe. Das nicht minder epische "Ocean Cloud" ist dann die erste Zugabe, bevor man sich erneut verabschiedet und unter frenetischem Jubel noch einmal zurückkehrt, um ein paar Klassiker der Fish-Ära, genauer gesagt des "Misplaced Childhood"-Albums zu spielen. Das unverzichtbare "Kayleigh" wirkt ein bisschen wie eine Pflichtübung und steht schon in krassem Kontrast zu allem, was vorher war. Das Publikum singt natürlich trotzdem genau wie bei dem folgenden zweiten Megahit der Band, "Lavender", begeistert mit. Nochmal so richtig die Post geht dann beim wirklich allerletzten Song des Abends ab. "Heart Of Lothian" ist bei allem Anachronismus einfach zu charmant und mitreißend, um es nicht zu würdigen und allein für die Solomelodie von Rothery schon ein Gewinn. Mit einem beschwingten "Wide Boys, Wide Boys - For The Heart Of Lothian" verlassen wir das Huxleys nach einem denkwürdigen Abend.
Setlist Marillion
1. The Invisible Man
2. You're Gone
3. Power
4. Sugar Mice
5. Fuck Everyone And Run (The New Kings Pt. I)
6. Russia's Locked Doors (The New Kings Pt. II)
7. A Scary Sky (The New Kings Pt. III)
8. Why Is Nothing Ever True? (The New Kings Pt. IV)
9. Goodbye To All That
10. Afraid Of Sunlight
11. Quartz
12. Neverland
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13. Ocean Cloud
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14. Kayleigh
15. Lavender
16. Heart Of Lothian



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