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Heino   30.10.2015   Erfurt, Stadtgarten
von rls

Nach dem "Schwarz blüht der Enzian"-Album stand die Frage, ob sich Heino wirklich trauen würde, eine Rock- oder gar Metalband zusammenzustellen und mit selbiger auf Tour zu gehen (die "Band" aus dem Video zum Titeltrack eignet sich bekanntlich für diesen Zweck eher weniger - wie ein Freund treffend bemerkte, sieht man beispielsweise Gotthilf Fischers Spiel durchaus an, daß er sonst selten am Schlagzeug sitzt ...). Das Tourmotto, das dem Albumtitel entspricht, schien diese Frage zu bejahen und stellte zugleich neue Fragen: Womit wird der Set auf abendfüllende Länge gebracht? Und: Wer geht da hin?
Zunächst zur zweiten Frage: Der Rezensent mit seinen knapp 40 Jahren trifft erstaunlicherweise ungefähr den Altersdurchschnitt der Anwesenden im fast ausverkauften Stadtgarten (andere Gigs der Tour melden gar ein komplett ausverkauftes Haus). Es sind enorm viele jüngere Leute anwesend, und der stilecht in ein Mortification-Shirt (Motiv "Primitive Rhythm Machine") gewandete Rezensent ist keineswegs der einzige Besucher in metallischer Kleidung. Menschen, die man auf einem "normalen", also volkstümlichen Heino-Konzert vermuten würde, sind dagegen nur in relativ geringer Zahl anwesend - der Barde hat es also offensichtlich wirklich geschafft, mit "Schwarz blüht der Enzian" und dem Vorgängeralbum "Mit freundlichen Grüßen" eine völlig neue Klientel zu erschließen, was er vor einem Vierteljahrhundert ja schon mal mit den Acid-Versionen von "Blau blüht der Enzian" und "Schwarzbraun ist die Haselnuß" versucht hatte, freilich ohne dauerhaften Erfolg. Das scheint diesmal anders zu sein, wobei "Mit freundlichen Grüßen" hier allein schon aufgrund des Songmaterials als Türöffner gewirkt haben mag. Das bestätigt sich auch an diesem Abend wieder: Liedgut wie Westernhagens allgemein bekannte Polygamiephantasie "Willenlos" erzeugen einen enorm lautstarken Publikumschor.
"Willenlos" ist auch der erste Song, den der Rezensent mitbekommt - ein unfallbedingter Stau auf der A4 hat ihn viel Zeit gekostet, und so entgeht ihm die erste halbe Stunde des Sets. Als er den Saal betritt, springen ihm zwei Dinge ins Auge: Es hängt das Motiv des Cleartrays von "Mit freundlichen Grüßen" als Backdrop hinter der Bühne - und es steht keine Metalband auf den Brettern, sondern eine Jazzband. Damit ist klar, daß die Tour in gewisser Weise unter falscher Flagge segelt, denn die Songs von "Schwarz blüht der Enzian", die im Hauptset noch erklingen, sind in den Jazzpopstil von "Mit freundlichen Grüßen" umarrangiert worden. Verantwortlich dafür zeichnet vermutlich Posaunist Richard Hellenthal, der schon besagtes Album produziert hat und auf der aktuellen Tour als Bandleader fungiert, wie wahrscheinlich auch schon auf der Tour zum besagten Album, die der Rezensent nicht gesehen hat. Die Band besteht aus einem Gitarristen, einem Bassisten, einem Drummer, drei Backgroundsängern (zwei davon weiblich), zwei Trompetern, einem Saxophonisten und eben Hellenthal an der Posaune, und sie präsentiert sich als eingespielte Einheit, die durchaus auch mal aus dem vorherrschenden Jazzpopgewand ausbricht, etwa im massiven "Sonne" (in der zugehörigen Ansage bezeichnet Heino seinen Wacken-Auftritt mit Rammstein als den Höhepunkt seiner Karriere - vor so einem Publikum spielt selbst er, der schon jahrzehntelang im Geschäft ist, sonst nicht) oder im raprockigen Mittelteil von "Schwarzbraun ist die Haselnuß", aber im Grundsatz schnell wieder dorthin zurückkehrt und auch die bisher nicht auf den "neuen" Alben verarbeiteten Songs wie das Medley "Tampico / Und sie hieß Lulalei / Karneval in Rio" in selbigem umsetzt. Eindeutig zu schnulzig fallen allerdings "Sierra Madre" und "Heimweh" aus, bevor die frische Version von "Ein Kompliment" den Abend rettet. Spätestens bis dahin ist dem Hörer auch aufgefallen, daß Heinos Stimme gar nicht so dominant abgemischt worden ist, und böse Zungen könnten meinen, das sei auch besser so - tatsächlich merkt man ihr das Alter auch live an, wenn nach hinten hin Töne "wegklappen" oder die exzellenten Backingsänger im Gegensatz zum "Chef" die angepeilte Tonart auch wirklich treffen, aber vor allem ersteres Problem tritt längst nicht so auffällig in Erscheinung wie in manchen der Studiofassungen, und in der Gesamtbetrachtung weiß der Leadgesang über weite Strecken durchaus zu überzeugen, zumal Heino geschickterweise diejenigen Songs von "Mit freundlichen Grüßen", die ihm etwas abverlangen, was er schlicht und einfach nicht gut kann (also z.B. rappen), aus der Setlist verbannt hat - und im genannten Mittelteil des Haselnußliedes läßt er klugerweise seinen Backingsänger Lothar ins Rampenlicht treten. Überhaupt weiß er, was er an seiner Band hat, und gönnt dieser sogar eine komplette Solonummer (und das an vorletzter Position im Hauptset, also einer dramaturgisch durchaus wichtigen Stelle!). Auch deren Wahl überrascht - wer hätte hier mit Pete Townshends "Face To Face" (vom 85er Album "White City - A Novel") gerechnet? Und wer hätte vermutet, wie gut das an diesem Abend funktioniert? (Bei insgesamt ziemlich klarem Soundgewand übrigens, was auch auf den ganzen vom Rezensenten erlebten Teil des Sets zutrifft.) Das feierfreudige Publikum intoniert in mindestens jeder zweiten Songpause "Heino"-Sprechchöre, bemerkt zum überwiegenden Teil auch die Selbstironie in "Alles nur geklaut" (die Refrain-Zwischenrufe lauten hier "Heino, Heino") und holt ganz zum Schluß sogar noch einen dritten Zugabenblock heraus, nämlich eine Wiederholung von "Schwarz blüht der Enzian", für den Rezensenten aber eine Neuheit, da er bei Lied 4 ja noch nicht anwesend war - und diesen Song gibt's dann wirklich in der metallisierten Fassung, die an die Studiofassung angelehnt ist, so daß sich der Eindruck der falschen Flagge wieder ein klein wenig relativiert (und der Rezensent nochmal sein Haupthaar kreisen lassen kann). So kommt Heino, wenn er pünktlich angefangen hat (wovon angesichts der Setlist auszugehen ist), auf etwa 100 Minuten Spielzeit, und das müssen ihm diverse Jüngere erstmal nachmachen, ebenso wie den enormen Unterhaltungswert eines solchen Gigs.

Setlist:
Junge
Augen auf
Was soll das
Schwarz blüht der Enzian
La Paloma
Wir lagen vor Madagaskar
Rosamunde
Willenlos
Ja, ja, die Katja, die hat ja
Sonne
Schwarzbraun ist die Haselnuß
Tampico / Und sie hieß Lulalei / Karneval in Rio
Sierra Madre
Heimweh
Ein Kompliment
Face To Face
Leuchtturm
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Die schwarze Barbara / Caramba, Caracho ein Whisky / Mohikana Shalali
Blau blüht der Enzian
Junge (Instrumental, Reprise)
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Alles nur geklaut
Hoch auf dem gelben Wagen
Ein Kompliment (Reprise)
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Schwarz blüht der Enzian



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