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Grosses Concert I/4   07.03.2014   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Der brasilianische Pianist Nelson Freire zählt zu den Stammgästen im Leipziger Gewandhaus, und die drei Aufführungen des diesmaligen Grossen Concerts beinhalten neben ihrer Stellung im Spielplan noch eine weitere Funktion: Decca, das Hauslabel sowohl von Freire als auch von Gewandhauskapellmeister Riccardo Chailly, schneidet sie für eine spätere Veröffentlichung mit. Lohnt es sich, nach dieser Ausschau zu halten? Der Rezensent ist am zweiten der drei Abende anwesend, und von dessen Eindruck ausgehend ist diese Frage mit einem klaren, wenn auch nicht ganz uneingetrübten Ja zu beantworten.
Denn auch noch am zweiten Abend brauchen Orchester, Dirigent und Pianist in Beethovens fünftem und damit letztem Klavierkonzert einige Anlaufzeit, um richtig zueinander zu finden. Noch der Übergang aus der klavierdominierten Einleitung ins Hauptthema gerät viel zu unruhig, aber irgendwann ist das Wir-Gefühl dann doch da - und dann gelingt inmitten hochklassiger Passagen hier und da ein Geniestreich, etwa die kaum übertreffbare Eleganz, mit der alle Beteiligten die Beethovenschen Stilanachronismen im ersten Satz umsetzen, wenn der Komponist mit schreitenden Passagen gen Barock oder gar Renaissance zurückblickt. Freilich gelingt nicht alles mit dieser Qualität: Die sägenden Kontrabässe sägen da durchaus schon mal nicht auf der Markierung, und Freire agiert an seinem Instrument bisweilen so zurückhaltend, daß ihn ein einzelnes Fagott problemlos übertönt - letzterer Eindruck kann freilich an anderen Stellen im Raum durchaus ein anderer gewesen sein. Vom Platz des Rezensenten führt er dazu, daß etwa die Dialogpassagen von Klavier und Holz kaum bewertbar sind, aber dafür die Dissonanzeinwürfe des Holzes an anderer Stelle umso prächtiger erstrahlen. Und Freire nutzt die dynamischen Möglichkeiten seines Instrumentes perfekt aus, etwa vor der Reprise, wenn er quasi aus dem Nichts kommt und sich schrittweise, aber sehr zielstrebig immer mehr Gehör verschafft. Freilich gibt es auch hier noch Reserven im Zusammenspiel mit dem Orchester, trotz häufigen "Schulterblicks" des Dirigenten. Dafür entschädigt die exzellente (ausnotierte) Kadenz, und spätestens hier ahnt der Hörer, daß die Stärken in dieser Beethoven-Aufführung wohl zuallererst im ruhigen Bereich liegen werden. Im Interesse der Aufnahme bleibt zu hoffen, daß an den anderen beiden Abenden die Atmosphäre des Schlußtons nicht sofort durch den einfallenden Chor der Publikumskarzinome zunichtegemacht worden ist, wie es an diesem Abend geschieht.
Die Prognose mit den Stärken im ruhigen Bereich bestätigt sich im Adagio-Satz. Dessen winzige Feinabstimmungsproblemchen verhindern nämlich nicht das Entstehen einer traumhaften Stimmung, förmlich "zum Reinlegen". Da dieses Phänomen sowieso nicht mit Worten zu beschreiben ist, spart sich der Rezensent weitere solche zu diesem Satz und geht in der Erörterung gleich zum dritten Satz über, dessen Attacca-Ankoppelung an Satz 2 den Hörer in doppelter Hinsicht wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt: Er ist als Quasi-Weckruf gedacht (diese Funktion erfüllt er prima), aber er gerät dafür, was für Weltklasseleute da musizieren, auch wieder viel zu nervös, trotz erneuten Schulterblicks Chaillys. Ins Bild paßt da auch, daß viele von Freires Ritardandi perfekt auf den Orchesterklang abgestimmt sind, aber eben nicht alle. Die positiven, oft exzellenten Momente überwiegen aber deutlich und machen diesen Konzertteil definitiv zum Erlebnis auch für den verwöhnten Konzertgeher. Chailly läßt dynamisch noch genügend Luft nach oben für Schostakowitsch und beweist den Mut, die gelegentliche partiturimmanente Zerklüftung auch spürbar werden zu lassen und eben nicht zuzukleistern - dieser Mut war bereits im 1. Satz gelegentlich spürbar und kommt hier im dritten noch viel stärker zum Vorschein. Der Dialog des Klaviers mit den Pauken gewinnt erst während des Spiels seine traumwandlerische Sicherheit, läßt mit dieser aber dann die Hörerkinnlade herunterklappen, und nach dem eher unprätentiösen Schluß erschallt sehr kräftiger Applaus, garniert mit einigen Bravi - aber Freire läßt sich trotzdem keine Zugabe entlocken.
Dmitri Schostakowitsch gehörte bisher eher nicht zum Kernrepertoire von Riccardo Chailly - das Gewandhausorchester besitzt zwar eine lange zurückreichende Schostakowitsch-Tradition und spielte beispielsweise in den Endsiebzigern einen musikhistorisch bedeutenden Zyklus aller Schostakowitsch-Sinfonien, aber wenn in den letzten Jahren Werke dieses Komponisten auf dem Spielplan standen, dann waren Gastdirigenten aktiv. Nun wagt sich Chailly also an die 5. Sinfonie, eine der populärsten, aber auch doppelbödigsten des sowjetischen Komponisten, der mit diesem 1937 entstandenen Werk offiziell wieder in die Reihen der "nützlichen" Sowjetkünstler aufgenommen wurde, nachdem im Vorjahr der von Stalin redigierte Prawda-Artikel "Chaos statt Musik" ein Damoklesschwert über Schostakowitsch aufgehängt und dazu geführt hatte, daß dieser seine relativ moderne und hochinteressante, aber eben auch formalistische und im Parteisinne unnütze 4. Sinfonie in der Schublade hatte verschwinden lassen. Aus dieser gefährlichen Lage befreite sich Schostakowitsch mit der vordergründig eine positive (also sozialistische) Wandlung des Protagonisten darstellenden 5. Sinfonie, die allerdings "zwischen den Zeilen" alles andere als einen künftigen sozialistischen Helden porträtierte. Chailly findet, so ist am Ende dieser Dreiviertelstunde klar, einen relativ eigenständigen Zugang zu diesem Werk, wobei die Tatsache, daß er als Kind eines nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes vor gänzlich anderen Lebensherausforderungen stand als der Komponist und viele der Dirigenten, die sich heute dessen Werk widmen, für diesen individuellen Zugang durchaus nützlich gewesen sein wird - es gelingt eine mehr oder weniger "unsozialistische" Wiedergabe. Das geht schon im eröffnenden Moderato-Satz los, den Chailly derart fahl spielen läßt, daß man sich in eine trostlose Steppenlandschaft versetzt fühlt, wo auch das lieblichere Seitenthema nur eine Fata morgana darstellt. Tempo- wie lautstärketechnisch fährt der Dirigent seinen Klangkörper oftmals enorm weit zurück, poltert in der ersten Herausforderung schön düster, erzeugt damit (geplant!) Panik und führt schließlich alle über einen von Schostakowitschs berühmten Zirkusmärschen in den Großkampf, der trotz raumfüllenden Klangvolumens immer noch klar durchstrukturiert bleibt. Erneut gelingt der Aufbau sehr großer Spannung, die unter anderen Vorzeichen auch bis zum Satzschluß erhalten bleibt, dort durch die fast entrückt wirkenden Klänge befeuert.
Das Allegretto an zweiter Satzposition nimmt Chailly sozusagen als gestörte Volksmusik - irgendeiner haut planmäßig immer daneben und verdeutlicht damit die bittere Ironie, die dieser Satz transportiert, selbst wenn der Dirigent sich durchaus auch mal dazu hinreißen läßt, selbst das Tanzbein zu schwingen. Die Balance hinüber zur Ironie gelingt auch im Largo-Satz, wenngleich die Idylle hier mit noch weniger strategischer Brechung auskommen muß und man das Stück durchaus auch ohne diese als reines Kuschelstück am Strand des Schwarzen Meeres hören könnte. Freilich nicht in Chaillys Interpretation, denn der Dirigent läßt die zwei Steigerungen in diesem Satz so trocken spielen, daß sie eher als Abbild der Betonbettenburgen an selbigen Stränden taugen. Wirkungsvolle Kontraste setzen die wunderbaren Holzsoli über den minimalistischen Streicherteppichen, die in der Nähe des absoluten Stillstands zu Atemlosigkeit führen, und der Satzschluß gerät wieder mal zum Lehrstück in Entrücktheit.
Der Schlußsatz hängt nicht attacca an, aber auch so entfaltet seine eröffnende Blechfanfare genug Potential, um den entrückten Hörer einigermaßen unsanft zu wecken. Chailly führt die Strategie aus dem Beethoven-Konzert, die Kontraste und Brüche zu betonen, konsequent weiter, fordert dem Orchester wieder einen dieser transparenten Lärmausbrüche ab (und bekommt ihn auch), wähnt den Hörer zwischendurch wieder in einer Idylle und quält sich dann förmlich zur Schlußsteigerung hinauf, die er trotz herbem Geholze weit unter dem bereits zuvor erreichten Dynamikgipfel ansiedelt und damit noch stärker die unpathetische, eben unsowjetische Lesart betont - eine Anti-Wirkung sozusagen, auf die Schostakowitsch sicherlich stolz gewesen wäre. Ein Teil des Publikums hält die dadurch erzeugte sonderbare Spannung nicht lange aus und beginnt noch fast im Schlußton zu applaudieren, die richtige große Begeisterung bricht sich dann erst nach dem ersten Vorhang Bahn. In dieser Form und mit einer so interessanten Herangehensweise möchte man von Riccardo Chailly und dem Gewandhausorchester gern auch weitere Schostakowitsch-Sinfonien, vielleicht auch mal (wieder) die seltener gespielten wie etwa die Dreizehnte, hören. Und siehe da, ein Blick ins soeben erschienene Vorschauheft für die Saison 2014/2015 offenbart, daß im Oktober 2014 die auch nicht eben häufig auf den Spielplänen zu findende Zwölfte (mit dem Untertitel "Das Jahr 1917") erklingen wird.



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