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5. Symphoniekonzert   08.01.2011   Dresden, Semperoper
von rls

Dresden und Leningrad, zwei der durch den Zweiten Weltkrieg am stärksten gebeutelten Städte, schlossen anno 1961 einen Städtepartnerschaftsvertrag, und die 50. Wiederkehr dieses Ereignisses wird anno 2011 mit einer Reihe von Veranstaltungen feierlich gewürdigt. Und einen besseren Auftakt als dieses 5. Symphoniekonzert der Sächsischen Staatskapelle Dresden hätte man für das Jubiläumsjahr wohl nicht wählen können - das betrifft die Qualität des Konzertes, wie man in der Nachbetrachtung feststellt, aber auch schon die grundsätzliche Planung, denn es stehen zwei Werke von Komponisten auf dem Programm, die eine sehr enge Beziehung zu St. Petersburg bzw. Leningrad hatten, und auch Dirigent Vladimir Jurowski und besonders Violinsolist Vadim Repin erfuhren gewisse Prägungen durch diese Stadt - letztgenannter spielte beispielsweise als Elfjähriger (!) sein erstes Recital im damaligen Leningrad.
Nun ist Repin knapp 40 und steht an diesem Abend und den zwei Folgetagen mit Tschaikowskis erstem und einzigem Violinkonzert vor dem Dresdner Publikum, bevor Orchester und Dirigent mit Sergej Krylow an der Violine und dem gleichen Programm noch zwei Konzerte als Gastspiele in Paris und Köln anhängen. Ob sie die Leistung dieses ersten Abends aber nochmal übertreffen können? Nicht ganz unmöglich, aber schwer vorstellbar - die Kombination Staatskapelle/Jurowski/Repin funktioniert jedenfalls exzellent. Weil man über Technik mit ihm sowieso nicht mehr reden muß, kann sich Repin ganz auf Gestaltungsfragen konzentrieren, und das macht er mit großer russischer Seele, aber an der rechten Stelle aufhörend, bevor Pathos hohl oder Schmelz schmalzig wird. Wie er seine Guarneri in der Kadenz des ersten Satzes quietschen, singen und weinen läßt, das hört man auf diesem höchsten Niveau gerne, da es trotz aller Expressivität eben immer maßvoll bleibt. Daß Repin und das Orchester punktgenau arbeiten, zeigt beispielsweise der Übergang ins Orchesterthema, eine Stelle mit Holperpotential - und da vergißt man auch gerne, daß in der kurzen Orchesterexposition die Hörner den alten Herbert-Kegel-Klassiker "Die Hörner schleppen!" mit Leben erfüllen, bevor in der Folge auch sie sich Jurowskis großer Linie mit Freude anpassen. Die zieht die Grenzen relativ weit außen - wenn geschwelgt wird, dann richtig, wenn Power kommt, dann viel davon. Trotzdem bekommen Orchester und Dirigent auch das Kunststück fertig, den gemäßigten Bombast im Orchesterthema in hellem Glanz erstrahlen zu lassen. Apropos Dirigent: Jurowski hier arbeiten zu sehen macht Freude und erlaubt zugleich interessante Detailentdeckungen, etwa wenn er kurz vor der letzten Beschleunigung im ersten Satz die Horneinwürfe mit der linken Hand mitzählt. Kurioserweise erinnert er von den Bewegungen her im ersten Satz fast an einen Roboter, auch in den entspannteren Passagen, während er den generell entspannteren zweiten Satz deutlich "runder" dirigiert, und bei diesem Stil bleibt er dann auch im wieder deutlich kantigeren Schlußsatz. Der bildet den denkbar stärksten Kontrast, wenn er attacca aus dem Beinahe-Stillstand am Ende des zweiten Satzes hervorschießt, und trotz halsbrecherischer Tempi bleiben die Hälse aller Beteiligten ganz. Nur ganz wenige Details kann man sich für die Folgekonzerte noch ausgefeilter erhoffen, etwa die Themaentwicklung über dem sägenden Cellobackground, die beim ersten Mal zu hölzern klingt und erst in der Wiederholung in die Nähe der Ideallinie kommt. Und auch Repin ist nur ein Mensch, der sich im ersten Satz dann auch schon mal mit dem Orchester nicht ganz über die Schlußtonausdehnung einig wird. Freilich: Was er davor in der Coda geleistet hat, verdient Hochachtung - eine Geige in den allerhöchsten Lagen eben nicht wie einen Tinnitus oder eine Katze, der man auf den Schwanz tritt, klingen zu lassen, das schaffen nicht viele. Da wollen Orchester und Dirigent nicht nachstehen, überzeugen spätestens mit den maßgeschneiderten irrwitzigen Tempoattacken vor dem Ende des dritten Satzes auch den letzten Zweifler - und ernten kurioserweise anfangs fast müde wirkenden Applaus der ausverkauften Semperoper, der sich dann aber als ausdauernd und langlebig erweist, bis schließlich nach dem xten Vorhang klar ist, daß Repin sich nicht zu einer Zugabe überreden läßt.
Nach der Pause tritt ein riesiger Orchesterapparat in Aktion, um Dmitri Schostakowitschs 4. Sinfonie zum Klingen zu bringen - ein Monumentalwerk, zu dem die Staatskapelle eine spezielle Beziehung hat. 25 Jahre hatte die Sinfonie nach ihrer Entstehung in der Schublade geschlummert, weil sie ansonsten wohl das Todesurteil über den 1936 unter dem "Chaos statt Musik"-Verdikt leidenden Komponisten dargestellt hätte - erst fast ein Jahrzehnt nach Stalins Tod kam sie zur Uraufführung, und 1963 spielte Kirill Kondraschin sie auch in der DDR, nämlich mit ebenjener Staatskapelle, eine Aufführung, die mittlerweile auch auf Tonträger nachzuhören ist und die in der nur langsam entstalinisierten DDR eine gewisse Fanalwirkung entfaltete. Auch in den Folgejahrzehnten blieb die Schostakowitsch-Affinität der Staatskapelle erhalten, und was für eine Meisterleistung entstehen kann, wenn Werk, Orchester und Dirigent eine derart gelungene Symbiose eingehen, das zeigt dieser Abend, und wenn die Intensität des ersten Satzes auch in den zweiten und dritten hätte hinübergerettet werden können, man hätte am achten Tag des neuen Jahres schon einen heißen Kandidaten für das Prädikat "Aufführung des Jahres" gehabt. Was Jurowski und das Orchester an Hochspannung in diesen ersten Satz legen, nimmt einem jedenfalls beinahe die Luft zum Atmen, und das geht gleich am Anfang los, wenn eine aberwitzige Kombination aus bedrohlichen Klängen und den für Schostakowitsch so typischen Zirkusmärschen erklingt. Die Holzsoli über dumpfem Trommelhintergrund sind an Sinistrität kaum zu überbieten, und bereits zuvor hat man eine klitzekleine Vorahnung des Invasionsthemas der Siebenten entdeckt. Der Komponist stellt brachialste Passagen neben kinderliedartige Holzsoli, und zu letzteren bewegt sich Jurowski auch fast mit Kinderhabitus. Dann bricht ein Streichersturm über die Semperoper herein, fugenartig bis ins Inferno gesteigert und das untrüglichste Qualitätskriterium einer Aufführung dieser Sinfonie: Während man sich nach einer guten Siebenten fühlen muß, als ob ein Panzer über einen hinweggerollt wäre, so entscheidet bei einer guten Vierten das Gefühl, als sei Budjonnys Reiterarmee über einen hinweggeprescht. Und die Armee ist an diesem Abend groß! Es gibt noch mehr Highlights, etwa wenn die Solovioline blitzartig von technokratisch-kalter zu sanglich-warmer Intonation wechselt oder ein Fagottsolo über gezupften Celli und Kontrabässen an Düsternis kaum zu überbieten erscheint. Nach diesem Satz jedenfalls holt man mehrmals tief Luft und schaut sich verstört in der Semperoper um, ob da nicht doch irgendwo ein georgischer Schnurrbart um die Ecke lugt. Im Direktvergleich dazu mutet der "Moderato con moto" überschriebene zweite Satz fast harmlos an, aber auch hier lauern einige Abgründe, die die Dresdner auch schonungslos offenlegen, bevor sie sich einem witzigen Schluß mit westernsoundtrackartigem Charakter stellen - bekanntlich arbeitete Schostakowitsch auch als Filmkomponist, und diese Erfahrungen hört man auch. Trotzdem markiert dieser Satz einen gewissen Bruch an diesem Abend, denn die Extremspannung des ersten kann der dritte nicht wieder aufnehmen, auch wenn er in der Einzelbetrachtung trotzdem ein extraordinär hohes Niveau aufweist. Dafür sorgt allein schon der ultradüstere Trauermarsch, dem Jurowski einen Schleichbeat zuweist, der lange Zeit den Satz bestimmen wird, bevor sich der Komponist phasenweise einem lustvollen Eklektizismus zuwendet, wenn er auf knappem Raum eine ganze Sammlung Tanzrhythmen präsentiert und selbst Jurowski zu einem Hüftschwung animiert, der dem von Gustavo Dudamel 2007 im Gewandhaus kaum nachsteht. Aber das bleibt nicht so, fünf Hammerschläge fällen den Helden (das Motiv kennt Schostakowitsch von Gustav Mahler), der Scheintriumph endet, und die Sinfonie verliert sich im Nichts. Wenn etwas bedauerlich ist, dann die Tatsache, daß Jurowski und das Orchester hier nicht an die vorherige Glanzleistung anknüpfen können, denn die Spannung steht nicht, sondern versandet gleichfalls. Das hält das Publikum aber nicht vom (berechtigten!) lauten Jubel mit enthusiastischen Bravorufen ab, und beim letzten Vorhang hält ein sichtlich gezeichneter Jurowski dann auch noch die Partitur in die Höhe, um darauf aufmerksam zu machen, daß er und das Orchester ja eigentlich "nur" Erfüllungsgehilfen des Komponisten sind. Zwar ist das Erschütterungspotential eines solchen Werkes heute längst nicht mehr so groß wie vor 50 oder 75 Jahren, aber man verläßt die Semperoper auch als kühler Analytiker mit einem latenten Gefühl, etwas Großartiges erlebt zu haben, und der Indikator, daß eine Schostakowitsch-Sinfonieaufführung gut war, wenn der Rezensent das Haus verläßt und dabei fröhlich das Invasionsthema aus der Siebenten pfeift, liegt eindeutig im grünen Bereich. Paradoxer Abschluß: Auf dem Weg zu seinem Parkplatz erlebt der Rezensent noch ein in vielleicht zwei oder drei Kilometern Entfernung gezündetes Höhenfeuerwerk, und dessen Donnerschläge entsprechen dem Lärm der großen Trommel, den Schostakowitsch und Jurowski gerade eben haben entfesseln lassen ...



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