www.Crossover-agm.de
Grosses Concert IV/5   15.04.2010   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die Programmzusammenstellung für dieses Konzert mutet seltsam an, und sie verliert diesen Status, das sei vorweggenommen, auch nach dem Hören beider Werke nicht, sieht man mal von einer etwas weit hergeholten Parallele ab: Beide Werke sind diejenigen, auf deren Erschaffung man in einer Überblicksdarstellung den Fokus legen würde bzw. schon zu Lebzeiten der Komponisten gelegt hatte, was denen keineswegs so ganz recht war - ein Phänomen, das in ähnlicher Ausprägung später in anderem musikalischem Kontext als "Smoke on the water"-Effekt bekannt wurde, dort noch gesteigert durch den Fakt, daß Ritchie Blackmore das Signaturlied ja auch noch jeden Abend selber auf der Bühne spielen mußte, was den beiden an diesem Abend kompositorisch vertretenen Herren erspart blieb.
Um nun aufzulösen, um wen es sich handelt: Erstes Werk des Konzerts ist das 1. Violinkonzert g-Moll op. 26 von Max Bruch, den seine Zeitgenossen eher als Vokalkomponisten wahrgenommen hatten, so daß das komplette weitere Instrumentalschaffen im Schatten verblieb, von ebenjenem Violinkonzert abgesehen, dessen Popularität und damit verbundene Reduktionserscheinung den Komponisten gewaltig nervte. Ein hübsches Werk, dessen Popularität man verstehen kann, ist's allerdings allemal, auch wenn an diesem Abend nicht alles so klappt wie gewünscht. Der zerklüftet anmutende Beginn des Vorspiels wirft schon ein Schlaglicht auf die eher rauhbeinige Herangehensweise von Dirigent Semyon Bychkov, und Violinsolist Renaud Capucon verwandelt sich dann auch eher in einen finster dreinblickenden Geigenhelden, dessen Poserfaktor einem gestandenen Gitarrenhelden in einer Hair Metal-Band in nichts nachsteht. Das Tutti gibt für Bruch-Verhältnisse erstaunlich viel Stoff, wenngleich die Dynamikrelationen innerhalb des Stückes durchaus gewahrt bleiben - nur halt auf einem anderen Level als dem, was man gemeiniglich gewöhnt zu sein glaubt. Im attacca angeschlossenen Adagio gelingen zwar einige schöne Linien, aber das entspannte Hineinlegegefühl bleibt aus. Das Allegro energico an dritter Satzposition wiederum schüttet reichlich Paprika in den Eintopf, Capucon verwandelt sich abermals, diesmal in einen Stehgeiger auf einer ungarischen Hochzeit, und Bychkov versucht mittels Handgelenkdrehungen Ordnung ins geballte Etwas zu bringen, was ihm mal besser, mal nicht so gut gelingt, obwohl, das muß man positiv festhalten, es an der prinzipiellen Durchhörbarkeit der Solovioline über die gesamten 25 Minuten hinweg nichts auszusetzen gibt. Der Applaus ist herzlich und hat was von einem Erlösungscharakter, bevor sich Capucon zur Zugabe erneut verwandelt und beweist, was er wirklich kann, aber bisher nicht zeigen konnte: Die ätherische Orpheus-Melodie Glucks schwebt förmlich durch den Großen Saal des Gewandhauses, die Spannung ist mit Händen zu greifen - ein kleines Meisterstück und ein versöhnlicher Abschluß.
Die hinteren drei Viertel der Gesamtspielzeit gehören der 7. Sinfonie, der "Leningrader", von Dmitri Schostakowitsch (bei diesem hatte die oftmalige Reduzierung seines Schaffens auf dieses Werk freilich ganz andere Gründe, über deren Ursachen man in den beiden auf diesen Seiten rezensierten Büchern von Solomon Wolkow viel Interessantes erfährt), und man sollte vermuten, daß der gebürtige Leningrader Bychkov zu diesem Werk eine ganz besondere Beziehung hat. Mit einem gewaltigen Gestaltungswillen legen er und das Orchester denn auch im Allegretto los - das ausladende Intro wird von gut plazierten Kammermusikeinwürfen abgelöst, die Solovioline singt kurz, teils gerät der Satz bis kurz vor den Stillstand, und dann bricht von ganz hinten das bekannte Invasionsthema hervor, das Bychkov auch in der letzten Variation noch nicht wie einen ultraschweren Panzer spielen läßt, bevor der akustische Krieg dann an die Grenze des Machbaren geht und den kompletten riesigen Raum des Saales zu füllen vermag. Qualitätskriterium für eine Aufführung dieser Sinfonie ist bekanntlich, ob man sich nach dieser Stelle so fühlt, als ob man von einem Panzer überfahren worden wäre - und an diesem Abend fehlt an der Komplettheit dieses Gefühls in der Tat nur sehr wenig. Die schrillen Klänge vor dem Totalzusammenbruch erzeugen zusätzlich auch noch Zahnschmerzen - bis dahin eine Meisterleistung aller Beteiligten. Aber es bleibt nicht so, denn jetzt verläßt den General plötzlich die große Linie, und es gelingen zwar noch einzelne Gefechtserfolge, aber der Rest dieses ersten Satzes bleibt erstaunlich vage und aussagelos. Das wetzen Bychkov und einzelne Orchestermitglieder im Moderato an zweiter Satzposition allerdings wieder aus, wenn sie die prä-stalinsche Idylle malen und mit dem fiesen Humor des Mittelteils kombinieren, wenn sie auch in Großbesetzung extrem leise spielen oder wenn das dumpf-melancholische Saxophon Trübsal bläst. Die eher lavierende Strategie Bychkovs, hier noch durchaus ein Trumpf, rächt sich allerdings im Adagio, weil sie dort den Eindruck von Unentschlossenheit vermittelt. Auch die epische Breite der choralartigen Parts läßt durchaus Wünsche offen, der maßgeschneiderte Speedausbruch aber weniger, denn seine innere Dynamik stimmt. Inwieweit der Weichzeichner über dem Streichersolopart in richtiger Dosis ausgegossen wurde, soll hier nicht diskutiert werden. Der Schlußsatz bietet eine gekonnte Kombination aus Idylle und subtiler Bedrohung, bevor der Krieg dann wieder da ist. General Bychkov bläst zur Materialschlacht, und zumindest vom Sitzplatz des Rezensenten am rechten Flügel aus verdient er sich ein Lob, indem er eine erstaunliche Klangtransparenz auch in die Tuttipassagen legt und diese im Gegensatz zum Krieg im ersten Satz hier stets differenziert und durchhörbar hält. Den Trauermarsch nimmt er freilich recht flott (jaja, die Front ruft wieder), und am Ende bleibt neben dem Sieg programmgemäß auch viel verbrannte Erde übrig. Laute Bravi und ein sofort losbrechender Applaus markieren auch hier eine Art Befreiung des Publikums, allerdings aus anderen Gründen als beim Bruch-Konzert.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver