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Huun-Huur-Tu   30.05.2013   Leipzig, Evangelisch-reformierte Kirche
von rls

Die kulturellen Traditionen der innerasiatischen Völker sind dem gemeinen Mitteleuropäer eher apocryph, und der Eiserne Vorhang sorgte dann sogar dafür, daß Ralph Siegel Dschinghis Khan Schoten wie "Laßt doch Wodka holen, denn wir sind Mongolen" singen lassen konnte, ohne daß er dafür vom Kamel gestoßen wurde, weil viele Hörer das inhaltliche Paradoxon schlicht und einfach nicht wahrnahmen, obwohl man eigentlich auch mit ein bißchen Allgemeinbildung hätte dahinterkommen können, daß die Kartoffel als Wodka-Ausgangspunkt den Mongolen unter Dschinghis Khan noch nicht bekannt gewesen sein konnte, weil sie aus der Neuen Welt stammt, die damals noch nicht entdeckt war. Über den tuwinischen Obertongesang weiß man hierzulande aber auch in Gelehrtenkreisen eher wenig, und so stellen sich die Sänger von Huun-Huur-Tu am Tag nach dem Konzert dann auch an der Leipziger Universität für ein paar laryngologische Untersuchungen zur Verfügung. 1992 gegründet, haben sich Huun-Huur-Tu längst den Status eines in aller Welt geschätzten Kulturbotschafters ihrer Heimatrepublik Tuwa, einem autonomen Gebiet auf russischem Territorium an der Grenze zur Mongolei, erspielt und ersungen. In der Gründungsbesetzung stand übrigens noch Albert Kuvesin, der später mit Yat-Kha eine sehr eigenständige Interpretation des Siebziger-Rocks mit tuwinischen Folkelementen erschuf. 2001 spielten Huun-Huur-Tu schon einmal beim A-Cappella-Festival, und nun, zwölf Jahre später, sind sie an einem regnerischen Abend in der brechend vollen Reformierten Kirche erneut zu Gast.
Legt man den A-Cappella-Begriff streng aus, dürften die Tuwiner eigentlich gar nicht zum Billing gehören: Sie haben vereinzelt A-Cappella-Stücke im "Mother Earth, Father Sky" betitelten Programm, etwa gleich das eröffnende "Morgul (Prayer)", den Standardopener ihrer Konzerte - die meisten ihrer Stücke kombinieren aber Gesang und landestypische Instrumente, zu denen sich an diesem Abend als einziger "Fremdling" eine Gitarre gesellt, die Gründungsmitglied/Moderator Sayan Bapa jeweils im letzten Stück beider Sethälften, "Yzheleen bis" und "Aa-shuu Dekei-oo", spielt. Den meisten Raum nimmt dabei die Igil ein, eine Verwandte der mongolischen Pferdekopfgeige aus der Lautenfamilie, mit zwei Saiten bespannt und in unterschiedlichen Baugrößen/Stimmlagen am Start; hinzu treten u.a. noch Percussion- und sehr archaische Flötenklänge. Weiß man nun noch, daß die tuwinische Musiktradition eher auf Lagerfeuerwiedergabe als auf Massenbeschallung ausgelegt ist und daß der auch Khoomei genannte Obertongesang nicht eben zu den weittragenden Kommunikationsformen gehört, kann man sich schon vorstellen, daß sich an diesem Abend in der Kirche eine recht schwierige Akustiklage einstellt: Schon in der dritten Reihe, wo der Rezensent sitzt, muß man sich anstrengen, bei den Nicht-A-Cappella-Stücken noch etwas vom Gesang mitzubekommen, und die Klänge der großen Trommel übertönen auch einiges von den anderen Instrumenten, wobei sie allerdings nur sporadisch zum Einsatz kommt. Und nach ein paar Stücken hat sich auch das Ohr des Hörers so weit an die Situation gewöhnt, daß es beginnt, "selektiv" zu hören und sich auf bestimmte Elemente, etwa den Gesang, stärker zu konzentrieren. Dieser entpuppt sich für alle Nichtkenner im besagten Opener "Morgul (Prayer)" als zwar sehr vielschichtig, aber prinzipiell durchaus deathmetalkompatibel - die daraus resultierende etwas schwierige Verständlichkeit der Texte relativiert sich freilich dadurch, daß sie im Publikum sowieso niemand übersetzen könnte (wer in Deutschland spricht schon Tuwinisch?). Sayan Bapa versucht dieses Problem mit kurzen Erläuterungen in basischem Englisch zu lösen, allerdings spricht er so leise, daß man ihn in der dritten Reihe kaum noch versteht - diese Hürde kann dann allerdings in der zweiten Programmhälfte genommen werden: Er bekommt ein Mikrofon vorgesetzt, das an die Lautsprecheranlage der Kirche angeschlossen wird. Das Programm deckt ein breites Spektrum tuwinisch-heimatlicher Themen ab, wobei allerdings Pferde eine zentrale Rolle spielen, die Trommler Alexei Saryglar dann auch entsprechend akustisch nachbildet, indem er Hufgetrappel simuliert. So entsteht eine ganz eigenartige Stimmung, noch einen Tick exotischer als die anderen Blicke, die das Festival in den Jahren zuvor an gleicher Stelle schon in Richtung Osten geworfen hatte (man erinnere sich beispielsweise an den Ankhiskhati Choir aus Georgien), aber trotz der Balanceprobleme nicht weniger faszinierend. So ernten Huun-Huur-Tu dann auch großen Applaus und bedanken sich mit der Zugabe "Eki Attar", bevor sie sich wie erwähnt am nächsten Tag für eine wissenschaftliche Untersuchung zur Verfügung stellen, deren erste Ergebnisse in einen Vortrag am übernächsten Tag einfließen.

Setlist:
Morgul (Prayer)
Oske Cherde
Sygyt
Chyraa Khoor
Kongurei
Saryglarlar
Yzheleen bis
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Kargyraa
Beezhing
Ovur
Erek Aksy
Odugen Taiga
Aa-shuu Dekei-oo
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Eki Attar



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