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Ankhiskhati Choir   19.05.2010   Leipzig, Evangelisch-reformierte Kirche
von rls

Die Ankhiskhati-Kathedrale liegt in der Altstadt von Tbilissi, der Hauptstadt Georgiens, und gibt die strukturelle Heimat für einen Männerchor her, der sowohl geistliches als auch weltliches Liedgut aus seiner Heimat darbietet und damit alte georgische Singtraditionen zu bewahren versucht. Immerhin haben die Georgier die Struktur der Polyphonie unabhängig von den Mittel- und Südeuropäern entwickelt - und vor allem ein paar Jahrhunderte früher. Dieses Erbe, das durch die Jahrhunderte hin immer wieder georgische Identität stiftete, auch wenn das Land selber grade mal wieder geteilt war, ist eben aufgrund dieser Identitätsstiftung immer wieder Angriffen ausgesetzt gewesen, und es dürfte wohl kein Zufall sein, daß sich der Chor 1986 gründete, also in einer Zeit, in der in Georgien die Stimmen gegen die Russifizierungspolitik immer lauter wurden und man gar einen Austritt aus der UdSSR (der nach deren Verfassung bei buchstabengetreuer Auslegung möglich gewesen wäre) erwog. Von Georgien hört man heutzutage in den mitteleuropäischen Medien allerdings im Regelfall nur, wenn mal wieder irgendeine Katastrophe passiert oder gar ein kleiner oder mittelgroßer Krieg ausgebrochen ist - also eine doch sehr einseitige Berichterstattung. Der Rezensent konnte sich 2009 selber von der realen Situation vor Ort überzeugen (er machte zwei Wochen entspannenden wie bildenden Urlaub im ganzen Land) und wird auch 2010, diesmal mit einem konkreten Bergziel, wieder dort sein.
Einen weiteren Beitrag zur Relativierung der Berichterstattung leistet das A-Cappella-Festival Leipzig, das bei seiner elften Auflage den genannten Chor zu Gast hat und sich über eine gefüllte Kirche freuen darf. "Am Anfang war der Gesang" heißt das Programm und teilt sich in einen geistlichen und einen weltlichen Teil. Mit erstgenanntem beginnen die neun Sänger, allesamt in heimische Gewänder gekleidet (sieben in Schwarz, zwei heller) und mit Kurzschwert am Gürtel. Die Kirchengesänge erklingen in der eigentümlichen georgischen Sprache (noch so ein Unikum: Georgisch ist mit keiner lebenden Sprache näher verwandt - die größten Parallelen gibt es noch zum Baskischen) und mit wechselnder Besetzungsstärke von drei bis neun, mit Ausnahme von "Mobrdzanebita" übrigens ausschließlich in ungerader Besetzungszahl. "Mobrdzanebita" fällt aber auch sonst ein wenig aus dem Rahmen dieses ersten Teils, denn hier übt eine Tenorstimme eine Art Vorsängerposten aus, während ansonsten mehr oder weniger alle Stimmen gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Zudem singen alle Stimmen komplett durch, fugierte Strukturen o.ä. gibt es hier nicht. Und was es auch nicht gibt, sind Schlußakkorde: Wie polyphon ein Arrangement auch gestaltet sein mag, am Schluß treffen sich alle auf ein und demselben Ton wieder, und der wird zumeist auch noch im Piano gesungen. Daran muß man sich beim Hören erst gewöhnen - der Übergang in "Ats Ganuteve" etwa hinterläßt doch eher ungläubiges Kopfschütteln. Die Lieder sind in der Regel durchkomponiert, nicht strophisch, wenngleich es durchaus wiederkehrende Elemente gibt, und die Homogenität der Sänger überrascht positiv: Kaum jemals bemerkt man Einsatz- oder Absetzzeichen, und trotzdem hält sich die Zahl der kleinen Ausfaserungen in sehr überschaubaren Grenzen. Das ruhige und entspannte "Shen Khar Venakhi" ("Du bist die Weinrebe") beschließt diesen ersten Teil.
Der zweite enthält dann weltliche Gesänge aus verschiedenen Regionen Georgiens - nicht ganz aus allen, denn beispielsweise Chewsuretien und Tuschetien bleiben unberücksichtigt. Dafür ist interessanterweise die Hochzeits-Antiphon "Voisa" aus Adscharien dabei - zweifellos ein politisches Statement, denn Adscharien war einer der Teile Georgiens, der sich nach dem Bürgerkrieg in den Frühneunzigern für unabhängig erklärt hatte, der aber 2004 auf friedlichem Weg wieder in den Schoß der Zentralregierung in Tbilissi zurückgekehrt ist. Prekär hingegen mutet die Wahl von "Arkuasaga" an, einem Gesang aus Abchasien, das sich bekanntlich auch für unabhängig erklärt hat und sich gern an Rußland anschließen möchte, wogegen sich Tbilissi aber mit Händen und Füßen wehrt. Aber sei's drum: Rein musikalisch gibt es an der Wahl dieses kurzen gitarrenbegleiteten Stückes nichts zu deuteln. Das Gros des zweiten Teils bleibt allerdings a cappella, nur in zwei Stücken tritt das dreisaitige Lauteninstrument Tschonguri hinzu, und in der ersten Zugabe kommt auch noch ein georgischer Dudelsack zum Einsatz, der gegenüber den üblichen europäischen Modellen deutlich einfacher konstruiert ist, damit aber auch einer Portion Spielkomforts entbehrt. Die Strukturierung der Lieder ist deutlich vielfältiger, hier kommt auch häufig eine Call-and-Response-Struktur vor, so etwa in "Bimur Sela", einem swanetischen Stück über ein Familiendrama (ein typisches Thema für diesen Landstrich, in dem sich noch über die Sowjetzeit hinweg archaische Verhaltensweisen wie Blutrachestrukturen oder Polygamie gehalten haben sollen). Das gurische Friedenslied "Chven Mshvidoba" hingegen spricht eine völlig andere Sprache: Alle drei Sänger agieren wie wild durcheinander und treffen sich immer mal wieder, um Frieden zu schließen. Ein klassisches Exzelsiorduell dagegen gibt das gurische Soldatenlied "Ierishi" wieder, in dem sich zwei Partien u.a. mittels jodelartigem Kriegsgeheul zu übertrumpfen versuchen. Dieses effektvolle Stück erntet beim gegen Ende hin immer enthusiastischer applaudierenden Publikum sehr großes Echo, aber auch ganz simple Stücke wie das kachetische Reiselied "Urmuli", von Nikoloz Beriashwili allein gesungen, überzeugen hörbar. Das Titellied "Pirvelad Iko Simgera", geschrieben von der Mutter des Ensemblekopfes Davit Schugliashwili, der berühmten georgischen Liedermacherin Inola Gurgulia, erklingt zweimal, einmal als Solo von Davit zur Gitarre am Beginn des zweiten Teils (hat irgendwas von Reinhard Mey und sticht völlig aus dem Restprogramm heraus) und einmal kurz vor Schluß in Triobesetzung, dem sonstigen Ensembleklang näher kommend. Das wiederum antiphon strukturierte und mit Exzelsior-Jodlern versehene gurische Feldarbeiterlied "Chochkhatura" schließt den zweiten Teil ab, und das Publikum erklatscht sich auch noch zwei Zugaben, bevor es um eine interessante Erfahrung reicher den Heimweg antritt. Der Programmplanungsfraktion des A-Cappella-Festivals ist es zu danken, daß es dem Publikum solche Entdeckungen jenseits ausgetretener Pfade ermöglicht - und das wird 2011 mit Luys, einer Formation aus fünf Armenierinnen, fortgesetzt. www.a-cappella-festival.de hält alle relevanten Informationen bereit. Wer das Review in zeitlicher Nähe zum Onlinegehen liest, hat übrigens Gelegenheit, das Konzert noch nachträglich mitzuerleben: Der Deutschlandfunk hat es aufgezeichnet und sendet es am 8. Juli 2010 ab 21.05 Uhr.



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