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Der Ring ohne Worte   16.05.2013   Leipzig, Gewandhaus
von rls

An Versuchen und Ideen, Richard Wagners 16stündiges Mammutwerk "Der Ring des Nibelungen" auf ein deutlich geringeres Zeitmaß zusammenzustreichen, hat es schon im 19. Jahrhundert durchaus nicht gemangelt: Keineswegs jede "Ring"-Aufführung außerhalb Bayreuths bot alle vier Opern in voller Länge dar. Anno 2013, im 200. Geburtsjahr des Komponisten, sind solche Versuche meist mit Verknüpfungen zu anderen Kunstformen und/oder anderen Herangehensweisen verbunden - immerhin bringt es das Theater der jungen Welt in Leipzig beispielsweise fertig, eine Theaterfassung in ungefähr einer Stunde darzubieten, wobei die komplette Handlung der "Götterdämmerung" gleich ganz weggelassen wird, weil den Machern das Happy End im Finale von "Siegfried" so gut gefallen hat, daß sie es als Ende des ganzen Zyklus ansehen. Aber nicht alle dieser Versuche sind direkt ans Jubiläumsjahr gebunden: Schon 2012 beispielsweise bahnte sich ein Team der Leipziger Musikhochschule einen kürzeren und zudem verjazzten Zugang zum "Rheingold", und auch das Werk, das an diesem Abend im so gut wie voll besetzten Großen Saal des Gewandhauses erklingt, ist nicht im Jubiläumskontext entstanden, zumindest nicht im 2013er, wenngleich es außerhalb solcher Anlässe eher selten auf den Spielplänen steht: Der amerikanische Dirigent Lorin Maazel, der selbst schon die "Originale" in Bayreuth geleitet hat, kam auf die Idee, eine Orchesterfassung des "Rings" zu arrangieren, die in etwa 70 Minuten das Gros der wichtigeren Instrumentalteile aus den Opern sowie einige umarrangierte Gesangspassagen zusammenfaßt - also sozusagen ein riesiges Medley, offiziell "Orchesterquerschnitt" getauft. Das ist für den Hörer immer noch anstrengend, zumal er in diesen 70 Minuten keine Erholungspause bekommt, wie das beispielsweise in den großen spätromantischen Sinfonien mit ähnlicher Spieldauer der Fall ist, wenn dort die Sätze nicht ineinander übergehen. Ebendas ist jedoch in Maazels Bearbeitung der Fall: Es gibt nicht Satz 1 "Das Rheingold", Satz 2 "Die Walküre" usw., sondern ein durchgehendes Orchesterwerk, wenngleich die originale Reihenfolge eingehalten wird und die Übergänge zwischen den einzelnen Originalopern deutlich zu erkennen sind. Freilich ist Maazel durch sein Grundkonzept zu manch harsch wirkendem Übergang gezwungen gewesen, und er steht zudem vor einem Problem, das es in ähnlicher Form beispielsweise im Mathcore und in guten Teilen der Neutonklassik gibt, dort allerdings als selbstgewähltes Schicksal in Eigenkompositionen, während Maazel mit den Rahmenbedingungen zurechtkommen muß: Viele der musikalischen Ideen folgen in kurzen Abständen aufeinander und haben so vergleichsweise wenig Zeit, sich und ihre Wirkung zu entfalten, weil ihnen der heiße Atem des nächsten Themas schon im Nacken sitzt. Das kann von Vor- wie von Nachteil sein, je nach Herangehensweise des Hörers - es passiert auf kurzer zeitlicher Distanz enorm viel, und das wird der eine Hörer als interessante Herausforderung begrüßen, während sich der andere mit einer Geste der Überforderung abwendet. So entsteht ein ähnliches Phänomen wie fünf Wochen zuvor in Richard Dubugnons "Battlefield Concerto" an gleicher Stelle: Man muß die Aufmerksamkeit auf der Bühne beim Hören und Schauen stark verteilen, immer wieder passiert etwas Neues, und die Wahrnehmung des ganzen großen Bildes ist nicht eben einfach, wobei allerdings der rote Faden in Gestalt des Programmheftes auch demjenigen, der nun nicht den gesamten "Ring" auswendig kennt, beim Hangeln durch das Unterholz der nordischen Götter- und Halbgötterwelt nachhaltig hilft.
Am Pult des Gewandhausorchesters steht mit Ulf Schirmer ein ausgewiesener Wagner-Fachmann, und gerade sein instrumentell brillantes "Rheingold" knapp zwei Wochen zuvor hat die Erwartungen an dieses Konzert noch einmal nach oben schnellen lassen, zumal der Dirigent hier keine Rücksicht auf die Sänger nehmen muß und in der Klanggestaltungspalette daher aus dem vollen schöpfen kann. Aber am Ende ist man doch schlauer: Selbst ein solcher Experte hat es angesichts der gedrängten Enge des Materials enorm schwer, einen großen Spannungsbogen hinzubekommen, und zudem mußte Maazel, dessen Maßgabe es war, keine Note zu verwenden, die Wagner nicht selbst komponiert hat, hier und da dramaturgisch doch herbe Kompromisse eingehen, an denen natürlich auch Schirmer nicht rütteln kann. Natürlich gibt er sich die größte Mühe, springt wie ein Stehaufmännchen hin und her und schüttelt sein Haupthaar, und natürlich ist vieles von dem, was seine Musiker da fabrizieren, als Einzelleistung durchaus weltklasseverdächtig. Nur scheitert das Ganze mitunter an den Proportionen, wenn da etwa die kammermusikalischen Anwandlungen am Beginn des "Siegfried"-Teiles exzellent niedergemäht werden, aber diese Steigerung sofort wieder im Sande verläuft. Das fällt vor allem im Schlußteil auf, von dem manche Passage eindrucksvolle Spuren in Bruckners Sinfonieschaffen hinterlassen hat, dort allerdings viel organischer und mit größerem Spannungsbogen zum Einsatz kommt, während hier zwangsweise vieles gedrängt wirkt, ja wirken muß. Mit diesem Problem muß freilich jeder leben, der sich auf Maazels Medley einläßt, und Schirmer findet einen durchaus gangbaren Weg durch dieses Labyrinth, wobei unterwegs wie bereits erwähnt manche wunderbare Blüte am Wegesrand blüht. Das geht schon in der "Rheingold"-Einleitung los, die Schirmer enorm distanziert nimmt und eine prima Verschmelzung aus Kontrabässen, Fagotten und Hörnern hinbekommt (die ersten Einsatzwackler seien nicht überbewertet, aber auch nicht verschwiegen - es werden noch ein paar folgen, die sich am zweiten Abend vielleicht schon abgeschliffen haben werden; wer die Liveübertragung dieses zweiten Abends auf MDR Figaro gehört hat, weiß mehr). Die beiden Schlagzeuger, die die Ambosse der schuftenden Nibelungen darstellen, stehen nicht unten auf der Bühne, sondern oben auf der Orgelempore, was zwar den Bergwerkskatakomben entgegengesetzt gerichtet ist, aber eine weittragende Klangfülle ermöglicht; Hagens Naturhornspieler blasen ihre Instrumente später ebenfalls von dort oben. Jörg Richters Posaunensolo von Donners "Hedo, heda" gehört zu den wenigen ins Orchester übersetzten Gesangspassagen, wohl aufgrund ihres markanten Charakters von Maazel ausgewählt (immerhin gab sie auch die Tonfolge für die Hupe des Autos von Kaiser Wilhelm II. her), und daß der Walkürenritt einen zentralen Platz einnehmen würde, war zu erwarten - Schirmer betreibt hier exzellente exzessive Lautmalerei, aber er kann wieder nichts dafür, daß die damit aufgebaute Spannung nach hinten ins Leere geht. Und kurioserweise nehmen weder Siegfrieds Erlegung des Drachens noch seine Ermordung eine sonderlich markante Rolle ein, im Gegensatz allerdings zur akustischen Darstellung des Drachens selbst (ein fetter Blechdrachen wälzt sich da über die Bühne) und dem Trauerteil nach Siegfrieds Tod, der eine enorme Spannung aufbaut, die sich dann explosionsartig entlädt. Zu überzeugen weiß auch die abwechslungsreiche und dramatische Darstellung von Siegfrieds Rheinfahrt, während der Schlußteil der "Götterdämmerung" wie erwähnt eher merkwürdig anmutet: Der Dynamikhöhepunkt ist schon lange durch, und eigentlich hat keiner mehr was zu sagen, so daß die Pikkoloflöte den Schlußakkord dominiert. Richtige Spannung will da nicht mehr aufkommen, wofür Schirmer und das Orchester natürlich wieder nichts können. Der ausdauernde Applaus des Publikums ist jedenfalls hochverdient, allerdings fehlt die letzte Begeisterung, die den Musikern knapp zwei Wochen zuvor nach dem "Rheingold" entgegenflammte, was freilich gut zum Gesamteindruck des Abends paßt.



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