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Das Rheingold   19.06.2012   Leipzig, Westwerk
von rls

Richard Wagners Musik übt ob der monumentalen Ausmaße ihrer Werkformen nicht selten ein gewisses Abschreckungspotential auf diverse Hörerschichten aus, die eigentlich theoretisch durchaus mit seiner musikalischen Ideenwelt klarkommen müßten. Das Abschreckungspotential potenziert sich allerdings noch einmal durch die zwangsweise klassische Instrumentierung. Aus diesen Gründen hat es schon den einen oder anderen Versuch (in welche Richtung auch immer) gegeben, andere Zugangswege zu Wagner zu finden, und einen derselben beschreitet eine gemischte Kreativfraktion an vier Abenden des Juni 2012 mit einer jazzigen Umdeutung des "Rheingoldes", also des Auftaktwerkes der Tetralogie "Der Ring des Nibelungen". "Gemischt" bezieht sich dabei auf die strukturelle Anbindung der beteiligten Studenten und Lehrkräfte: Sie kommen von der Leipziger Musikhochschule, vom Institut für Kunstpädagogik der Leipziger Universität und aus der Fakultät Medien der Hochschule für Technik, Wirtschaft und Kultur Leipzig; dazu treten noch Schüler des Humboldt-Gymnasiums Leipzig, welche die stumme, aber geräuscherzeugende Rolle der goldschürfenden Nibelungen spielen.
Diese Kombination ruft großes Interesse hervor: Auch am dritten Abend und trotz Fußball-EM steht eine lange Schlange vor dem Westwerk, die irgendwann abgeschnitten werden muß - "Ausverkauft!" Durch den langsamen Einlaß verzögert sich der Beginn der Aufführung, was das Orchester kompensiert - es beginnt irgendwann einen ambientartigen schwebenden Dauerton zu erzeugen, der an den Grundton in Anathemas "Dreaming: The Romance" erinnert. Das Westwerk ist eine alte Fabrikhalle, in der sich das Geschehen der vier Bilder, in die Wagner sein Werk gegliedert hat, auf zwei räumlichen Ebenen abspielt: im Parterre, wo der Rhein des ersten Bildes fließt und Alberichs Nibelungen schuften, und auf diversen Podesten und Gerüsten, wo die Götterwelt beheimatet ist. Zwischen diesen auch horizontal getrennten Handlungsorten pendelt das Publikum dann hin und her, es gibt keine festen Sitzplätze außer hier und da einzelnen Palettenstapeln. Die Inszenierung versucht sich an einer Umdeutung des Werkes in einen heutigen Kontext, so daß Wotan beispielsweise im Baubüro sitzt und über den Plänen seiner von den Riesen Fafner und Fasolt zu errichtenden Burg Walhall brütet, während Donner in asiatischer Kampfkunst geübt ist und die beiden Riesen in Gesellentracht bzw. klassischer Bauarbeitermontur auftreten. Der Informationstext faßt die Herangehensweise folgendermaßen zusammen: "In einer hochtechnisierten Umbruchsgesellschaft, in der die Götter als 'Zwischennutzer' eine Baustelle bewohnen, hängt alles am Funktionieren der computergesteuerten Abläufe, während die dafür nötigen Rohstoffe weit entfernt gewonnen werden müssen." Überall im Raum verteilt finden sich kleine Monitore, auf denen neben atmosphärischen Bildern auch Textauszüge und gelegentlich programmgemäß einige Bildstörungen eingeblendet werden, und die beteiligten Studenten wissen die Technik auch zur Lösung anderer Probleme heranzuziehen. Beispielsweise setzen sie die schwer inszenierbare Verwandlung Alberichs zunächst in einen Tatzelwurm und dann in eine Kröte hinter einer Trennwand um, von wo aus ein leicht verfremdetes Bildsignal dann auf einen größeren Monitor vor der Trennwand projiziert wird. Zudem singen alle Beteiligten über Kopfmikrofone, was freilich trotzdem nicht das gewünschte Klangbild erzeugt, das eine komplette Textverständlichkeit ermöglichen würde - ein altes Problem bei Wagner, der in sängerisch besonders dramatischen Passagen gern auch das Orchester toben läßt, was die Sänger vor schwer lösbare Aufgaben der Durchsetzung stellt, zumal wenn der Dirigent nicht explizit auf solche Probleme achtet.
An diesem Wagner-Grundproblem rüttelt natürlich auch die Neufassung nicht, denn im Sinne der Dramatik läßt sich die Balance schwerlich anders gestalten und allenfalls feinjustieren. Nun stellt diese Neufassung aber einen massiven Eingriff in die Musik als solche dar. Erstens verkürzt sie die zweieinhalb Stunden des Originals auf zwar nicht die in der Ankündigung "versprochenen" 90 Minuten, aber doch einen Wert unter zwei Stunden, und zweitens verändert sie die Instrumentierung massiv, indem eine Jazzband einbezogen wird und etliche der Klänge "Band plus Orchester" im Stile einer Bigband arrangiert sind. Das mag dem Puristen natürlich sauer aufstoßen, aber Wagner selbst hatte ja dazu aufgefordert, Neues zu erschaffen, und die Anpassung ist im vorgenannten Fall auch höchst respektvoll geschehen. Genau dort liegt aber der Hase im Pfeffer: Das Konzept klingt eigentlich viel revolutionärer und spektakulärer, als es in Wirklichkeit ist, und es beschleicht den Hörer hier und da durchaus das Gefühl, die Beteiligten hätten Angst vor der eigenen Courage bekommen. Band und Orchester sind viel zu wenig miteinander verzahnt, um einen Mehrwert nach dem alten Motto "Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile" zu erzeugen - einige Passagen im zweiten Bild deuten an, wozu ein solches Miteinander führen könnte, aber sie bleiben Stückwerk. Zudem behaupten Spötter ja, der komplette Ring mit seinen 16 Stunden Spielzeit sei, was den dramatischen Gehalt angeht, locker in einem Viertel der Spielzeit unterzubringen, und dieses Urteil trifft in den Proportionen auch ungefähr auf "Das Rheingold" zu. Heißt: Wenn man schon die Säge ansetzt, hätte man das an vielen Stellen noch deutlich konsequenter machen können. Gerade das vierte Bild schleppt sich so dahin, obwohl Ricarda Götz im Programmheft eine schön komprimierte Handlungsbeschreibung gibt. Hätte man sich auf deren Umsetzung beschränkt und die emotionale Ebene da geschickt mit eingewoben, so hätte ein hochexplosiver Cocktail entstehen können. So aber helfen auch die guten inszenatorischen Einfälle nicht - es kommt angesichts der Erwartungshaltung irgendwann eine gewisse Langeweile auf, und man fühlt sich trotz der räumlichen Situation bisweilen eben doch nur dabei statt mittendrin. Das soll die Leistungen aller Beteiligten nicht schmälern (vor allem im Gesangsbereich gibt's doch etliches Gutes zu hören), und der Schritt ist auf alle Fälle als ein interessanter zu werten - aber er geht nicht weit genug, und das Ganze wirkt wie nicht konsequent zu Ende gedacht (wozu die etwas bemüht wirkenden Zettel über die Ausbeutung der kongolesischen Kinderarbeiter bei der Gewinnung von Coltanerz, die überall ausliegen, prima passen). Das scheint freilich die wenigsten Anwesenden zu stören, und man belohnt die Aufführung in der alten Industriehalle mit reichlich Applaus.



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