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Grosses Concert IV/4   11.04.2013   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Die Pianistinnen Katia und Marielle Labéque, beide ohne Zweifel zur internationalen Elite der Tastenakrobatinnen zählend, waren vor einigen Jahren artists in residence am Leipziger Gewandhaus und kehren seitdem gern und regelmäßig an den Ort zurück, an dem sie weiland einen Triumph nach dem anderen feierten. An diesem Abend freilich stehen sie vor einer besonderen Aufgabe: Sie spielen das "Battlefield Concerto" betitelte Konzert für zwei Klaviere und Orchester von Richard Dubugnon, und zwar als deutsche Erstaufführung - das 2011 entstandene knapp halbstündige Werk stellt eine Auftragskomposition von gleich vier Institutionen dar, unter denen sich auch das Gewandhaus zu Leipzig befindet.
Und am Ende dieser 30 Minuten ist man um diverse Erkenntnisse reicher. Erstens handelt es sich um eines jener Stücke, bei denen der Liveeindruck deutlich stärker ausfällt als eine wie auch immer geartete Wiedergabe auf Konserve. Wer einen Tag später die Liveübertragung des zweiten Konzertabends auf MDR Figaro hört, bekommt zwar zweifellos eine Ahnung von der kompositorischen Umsetzung, aber ihm fehlt erstens der räumliche Höreindruck und zweitens der optische Faktor. Damit sind keineswegs die Reize der Pianistinnen gemeint, sondern zunächst die Aufteilung des Orchesters, das per Sitzordnung in zwei Hälften geteilt ist (dazwischen liegt symbolisch ein Graben) und quasi eine halbe Stunde lang gegeneinander zu kämpfen hat, jeweils unterstützt von einem auf der jeweiligen Emporenseite positionierten Signaltrompeter. Und natürlich gehört auch zu jeder der beiden Kampfparteien eines der beiden Klaviere. Freilich sind die Orchesterteile keineswegs paritätisch besetzt - beispielsweise hat das eine die hohen Bläser, das andere die tiefen, und die acht Schlagzeuger unterscheiden sich nicht nur in der Art ihrer "Bewaffnung", sondern auch rein numerisch, denn zum ersten Orchester gehören fünf und zum zweiten nur drei.
Soweit die Ausgangsposition des nicht in Einzelsätze gegliederten Kampfes, der übrigens ein reales Gefecht als geistiges Vorbild hat: die Schlacht von San Romano, allerdings nicht direkt, sondern über den Einflußlinienumweg via das gleichnamige Gemälde von Paolo Uccello. Nach einem äußerst pathetischen Intro rufen die Ferntrompeten zum Kampf, und der wogt dann lange Zeit hin und her. Die beiden Pianistinnen liefern sich dabei ausdauernde Duelle, die eine Vertrautheit des frankoschweizerischen Komponisten mit den entsprechenden Elementen des Deep-Purple-Duos Ritchie Blackmore/Jon Lord nahelegen, wobei sich diese beiden ja mit unterschiedlichen Instrumenten duellierten, während die Labéque-Schwestern beide einen normalen Flügel vor sich haben, was beim Komponieren gleichermaßen neue Möglichkeiten des Unisonospiels als auch neue Risiken der einzelnen Durchhörbarkeit erzeugt. Eine E-Gitarre kommt im Orchester allerdings auch vor, und zwar nur im ersten - interessanterweise ist sie allerdings ohrenscheinlich fast auf E-Baß-Niveau heruntergestimmt. Für den gewissen Jazzrocktouch einiger Passagen zeichnet sie allerdings allenfalls peripher mitverantwortlich. Dubugnon, Jahrgang 1968, kennt offensichtlich die jüngeren Entwicklungen in der Filmmusik gut, und vielleicht ist ihm auch der sogenannte Mathcore geläufig, ein durch extreme Variabilität auf kleinstem Raum gekennzeichnetes Subgenre des jetztzeitigen Extremmetals. Das "Battlefield Concerto" krankt nämlich an einem Syndrom, das man auch im Mathcore häufig findet: Der Komponist reiht Millionen von Ideen in kurzer Zeit aneinander, so daß kein Element Zeit findet, richtig Wirkung zu entfalten. Das hält eine Zeitlang die Aufmerksamkeit wach, beginnt aber irgendwann den Hörer zu ermüden und macht zudem die Kompositionen austauschbar. So weit treibt es Dubugnon zwar nicht, aber auch in seinem Werk hätte man einigen Ideen (und es gibt viele gute!) einfach etwas mehr Entwicklungszeit gewünscht, also lieber ein Infanteriegefecht als eine Neutronenbombe. Was der Komponist auf diesem Sektor kann, zeigen die diversen entrückt-ruhigen Passagen, die an eine Art "Vollmond auf dem leeren Schlachtfeld"-Motiv erinnern, und einige der finsteren Klanglandschaften hätte auch manche neuzeitliche Funeral-Doom-Metal-Band mit Kußhand übernommen. Das Pathos des akustischen Schlachtgemäldes weiß ebenfalls zu überzeugen, und selten hat der Rezensent ein Solokonzert gehört, bei dem er so wenig auf die Soloinstrumente geachtet hat, weil einfach im Orchester so viel passiert. Die beiden Pianistinnen spielen übrigens sehr körperbetont, und es stellt auch kein Problem dar, daß sie weit hinter dem Rücken von Dirigent Semyon Bychkov stehen - die drei haben auch schon die 2012er Uraufführung gemeinsam bestritten und sind offensichtlich gut aufeinander eingespielt. Der Schluß des Kampfes kommt etwas abrupt, und es gibt keinen deutlichen Sieger, da beide Seiten offenbar große Verluste erlitten haben - für die lähmende Darstellung des Vorschlußparts gebührt den Beteiligten ein Sonderlob. Ein Pyrrhussieg ist das Ganze also, freilich nicht für Orchester, Solistinnen, Dirigent und Komponist (der im Saal anwesend ist), die vom Publikum frenetisch gefeiert werden. Interessanterweise verzichten die Pianistinnen trotzdem auf eine Zugabe.
Nach der Pause steht die 11. Sinfonie von Dmitri Schostakowitsch auf dem Programm, ein eher selten zu hörendes Werk, das sich programmatisch mit den Geschehnissen Anfang 1905 in St. Petersburg auseinandersetzt, als am sogenannten Petersburger Blutsonntag eine friedliche Demonstration von der Obrigkeit zusammengeschossen wurde - aber wie man Schostakowitsch kennt, widersetzt sich auch dieses 1957 entstandene Werk einer eindimensionalen Interpretation, und so kann es gleichermaßen als Parabel auf die Niederschlagung der ungarischen Demokratiebewegung anno 1956 gesehen werden. "Der Schlossplatz" ist das eröffnende Adagio überschrieben, ein Nachtbild in vieldeutigster Form sozusagen, das Bychkov enrom weit zurückgenommen anheben läßt, was Tempo und Lautstärke betrifft. Nicht nur hier freilich erweist sich der Chor der Karzinome im Publikum als Gefahr für die Gesamtstimmung - die Beteiligten lassen sich davon allerdings nicht irritieren. Da kommt ein Hornsolo wie aus weiter Ferne, da gelingt Orchester und Dirigent quasi eine Art Ambient-Doom mit nicht finsterer, sondern eher vernebelter Stimmung, in der kurioserweise selbst die Notenumblättergeräusche kurz davor stehen, einen störenden Einfluß auszuüben. Aber solche Gedanken vergißt man schnell wieder, wenn man die wie aus dem Ärmel geschüttelte erste große Steigerung hört. Die ist freilich noch nichts gegen die enorme Plastizität der Kampfszenen im attacca angeschlossenen Allegro namens "Der 9. Januar", abgelöst immer wieder von Pausen im Kampf. Wie Bychkov hier trotz heftigsten Gefechtslärms und wild sägender Streicher immer noch eine enorme Klangtransparenz hinbekommt, stellt ihm und dem Orchester ein exzellentes Zeugnis aus, und zudem wählt er die Dynamikgrenzen weit außen. Zwar ist nach oben gefühlt immer noch Platz, aber die Elegie zwischen dem zweiten und dritten Ausbruch dieses Satzes arbeitet an der Grenze zur Unhörbarkeit, und auch der dritte, sehr extreme Kampf (bei dem ein gewisser Tuomas Holopainen offenbar früher genau zugehört hat) bricht ins x-fache Pianissimo zusammen. Der wiederum attacca angeschlossene dritte Satz, ein weiteres Adagio mit dem Titel "In Memoriam", gerät Bychkovs russischer Seele gemäß natürlich besonders authentisch, auch wenn der Komponist natürlich eine ganze Batterie von Steilvorlagen für typisch russische Trauerarbeit geliefert hat. Da wird "Unsterbliche Opfer" (übrigens in von der hierzulande bekannten Melodie leicht abweichender Form) ausgerechnet in den Bratschen eingeführt, da evozieren die Blechchoräle eine enorme Finsternis, da mäht in einem Ausbruch die Pauke alles nieder - aber all das dient nur als Vorbereitung für das abschließende Allegro non troppo, "Die Sturmglocke" getauft. Wiederum ohne Pause angehängt (die Handlung geht laut offizieller Verlautbarung Schostakowitschs durch, daher diese sinfonieuntypische Wahl), folgt auf eine exzellent gerittene Attacke eine spannende Steigerung hin zur "Warschawjanka"-Einflechtung über sägenden Streichern - und dann kommt der doppelbödige Charakter so richtig zum Tragen: Der Heldenmarsch gerät zur Pseudodarbietung, der große Knall bricht wieder zusammen (exzellent von den Beteiligten gemeistert!), und das Unheil führt zu einem doomig-finsteren Finale, das jedem mit Ohren ausgestatteten Hörer klargemacht haben müßte, daß es allen offiziellen Verlautbarungen zum Trotz hier eben nicht in eine blühende Zukunft hinübergeht. Konnten Bychkov und das Orchester mit Schostakowitschs Siebenter Sinfonie drei Jahre zuvor an gleicher Stelle nicht durchgängig überzeugen, so gelingt ihnen an diesem Abend eine meisterhafte Interpretation, die vom Publikum mit sehr viel Applaus belohnt wird. Und apropos Publikum: Sollte jemand noch zweifeln, daß man mit einem Programm, auf dem ausschließlich Werke stehen, die nicht älter als 60 Jahre sind, einen ausverkauften Saal erzielen kann, so wird er durch diesen Abend überzeugt.



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