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6. Philharmonisches Konzert: Passacaglia   10.04.2013   Gera, Theater
von rls

Die Passacaglia ist eine in barocken Zeiten weit verbreitete Musikform mit - vereinfacht beschrieben - einer variierten Solostimmenfolge über einem festgefügten Grundstrukturelement, also eine Praxis, wie man sie (freilich oft in stark vereinfachter Form) auch in der heutigen Tanz- und Unterhaltungsmusik noch findet. Postbarocke Zeiten allerdings hatten die Passacaglia erstmal nachhaltig ausgeblendet, nur vereinzelt tauchten ab dem mittleren und späteren 19. Jahrhundert, das schrittweise die "alte" Barockmusik wiederzuentdecken begann, künstlerische Auseinandersetzungen mit ihr auf, und erst im 20. Jahrhundert, als man der Mathematik in der Komposition (wieder) mehr Bedeutung zuzumessen begann, fanden Passacaglien und/oder von ihnen abgeleitete Formen wieder stärker Beachtung.
Drei Werke aus den genannten Kernepochen bilden nun das Programm des 6. Philharmonischen Konzertes in Gera. Bach steht am Beginn, aber wenn man dessen Werke heute in einem Orchesterkonzert hört, dann sind es in der Regel Bearbeitungen, und dem ist auch an diesem Abend so: Es erklingt Passacaglia und Fuge BWV 582 im Orchesterarrangement von Leopold Stokowski, dem die Welt beispielsweise auch eine Orchesterfassung der epidemischen d-Moll-Toccata BWV 565 verdankt und der hier bei der Umsetzung der Orgelklangfarben in solche des Orchesters einen exzellenten Job erledigt hat. Dabei bekommt das Philharmonische Orchester Altenburg-Gera zunächst beeindruckend viel Ruhe in das Ostinatothema, und Michael Helmrath am Dirigentenpult darf sich eine exzellente Dynamikgestaltung im ganzen Stück gutschreiben lassen. Was hingegen lange Zeit nicht aufkommt, ist das Gefühl des Miteinander-Musizierens - zu oft finden die jeweiligen Partner nicht zueinander, die Flöten und das Fagott nicht, die Violinen und die Celli auch nicht. Erst das Grande Finale mutet dann wie aus Stein gemeißelt an, obwohl selbst hier die Trompete wackelt und sich die Violinen und die Celli immer noch nicht ganz einig sind. Die gute Mixtur aus Energie und Glanz macht das aber locker wieder wett.
Benjamin Britten schuf seine Sinfonie für Cello und Orchester bewußt in dieser Betitelung und nicht etwa als Konzert für Cello und Orchester - heißt praktisch: Die Arbeit des Cellisten ist viel stärker mit dem Orchester verzahnt, obwohl er eindeutig als Solist wahrnehmbar bleibt (ansonsten hätte die postulierte wie reale Inspiration durch Mstislaw Rostropowitsch, immerhin einer der profiliertesten Cellisten des 20. Jahrhunderts, auch einen arg merkwürdigen Beigeschmack). An diesem Abend sitzt Norbert Anger auf dem Solistenstuhl, der übrigens zumindest indirekte Verbindungen nach Gera besitzt: Zu seinen Kammermusikpartnern zählt Martin Funda, Sohn des Orchestergeigers Egbert Funda und gerade erst im Januar als Solist zu Gast gewesen. Anger fügt sich problemlos ins Orchester ein und erledigt seine nicht eben leichte Aufgabe durchaus mit Bravour, wenngleich die gestalterischen Glanzstücke andere setzen, nämlich genaugenommen das Kollektiv unter Helmraths Leitung. Was die nämlich im ersten Satz, einem Allegro maestoso, an Ausdruck hineinlegen, das weiß nahezu durchgängig zu überzeugen, vom eröffnenden weltkriegskompatiblen Düsterlärm über die tiefgründigen Passagen, wenn Cello und Trompeten über einem Schlagzeugteppich schweben, bis hin zum ultradüsteren Schluß, den auch neuzeitliche Düsterspezialisten wie die Funeral Doomer Ahab kaum finsterer hätten schreiben wie interpretieren können. Die hätten sich freilich den letzten Cellozupfer gespart, der die Düsternis ironisch bricht, aber dennoch die extrem angespannte Atmosphäre ebensowenig zerstreuen kann wie ein markanter Huster. So eine Schlußwirkung baut Britten übrigens auch an den zweiten Satz - das Cello säbelt sich einen Wolf, und das Blech kontert mit einem simpeln 1-Ton-Akkord. Bis dahin freilich hat dieses Presto inquieto eine Fülle blitzartiger Wechsel zwischen forschem Vorwärtsdrang und zurückgelehnten Verharrungen bereitgehalten, und auch der häufige Rollentausch gelingt an diesem Abend ausgezeichnet. Aber die wahren Stärken liegen scheinbar doch in der Gestaltung der Düsternis, wie das Adagio an dritter Satzposition beweist. Helmrath läßt es zu Beginn noch recht licht nehmen, um sich Raum für große Kontraste in Richtung Dunkelheit zu bewahren, und die Nützlichkeit dieser Strategie zeigt sich in einigen extrem zurückhaltenden und äußerst sinistren Passagen. Pauken-Cello-Duelle gehen in schön niederschmetternde blechdominierte Teile über, der Ausbruch vor der Kadenz sitzt perfekt, und die Pauken spielen erstaunlich lange in die Kadenz hinein, die wiederum auf Wirkung und nicht auf Virtuosität berechnet zu sein scheint. Attacca, vielleicht sogar etwas zu ruppig (Trompeten!) folgt der vierte Satz. Das ist der, dem Britten die Passacaglia-Form gegeben hat, aber die Ostinatostruktur stört ihn keineswegs bei der Gestaltung radikaler Stimmungswechsel und Tempogegensätze. In den Verharrungen erschaffen Helmrath und das Orchester erneut eine beeindruckende Tiefe, während zirkusartige Klänge vielleicht auf Brittens Vertrautheit mit dem Werk Schostakowitschs, der dieses Stilmittel gern einsetzte, verweisen. Nach einem Quasi-Stillstand hängt er dann doch noch einen Bombastschluß an, der an diesem Abend noch einige Dynamikreserven nach oben offenläßt. Trotzdem ernten alle Beteiligten viel Applaus, den sie sich mit der Gesamtleistung im Stück auch redlich verdient haben, und Anger spielt als Zugabe - natürlich - Bach und baut damit einen Rahmen um die erste Programmhälfte.
Die zweite Programmhälfte besteht aus der 4. Sinfonie von Johannes Brahms, die zugleich auch seine letzte bleiben sollte und im letzten Satz eine Passacaglia-Struktur enthält. Vor diesen hat der Herr aber den ersten, zweiten und dritten Satz gesetzt, und der erste hebt mit einem Hauptthema an, das weiland für Spott bei den Hörern sorgte, weil es ihnen zu einfältig vorkam. Das Problem an diesem Abend ist ein anderes - es mangelt hier ein wenig an Präzision. Aber Helmrath bekommt die Sache bald besser in den Begriff, und es gelingt ihm eine recht lebendig wirkende Interpretation dieses Allegro-non-troppo-Satzes, obwohl er sich von Dynamikextremen konsequent fernhält. Das Orchester erzeugt dazu an den passenden Stellen Lockerheit, nimmt einige Stellen zwar fast zu zurückhaltend, modelliert aber trotz nach wie vor mäßigen Energielevels einen gekonnten Bombastschluß des Satzes. Das Andante moderato an zweiter Satzposition nimmt Helmrath ziemlich weit zurück, aber in puncto Eleganz bleiben hier und da noch Reserven erkennbar, beispielsweise in den Hörnern, die sich aber später diesbezüglich deutlich steigern. Ungewöhnlich zackig interpretierte Passagen münden in breite Klanglandschaften, und nur der Schluß holpert hier ein wenig. Im Allegro giocoso, das den dritten Satz bildet, verwandelt sich Helmrath dann allerdings in einen Tanzbär, die flotten Läufe sitzen, und die fiesen Untertöne in den Tuttischlägen muß man auch erstmal so hinbekommen. Den Trioteil nimmt Helmrath nur wenig zurück, und mit dem Gesamtenergielevel darf man hier in diesem Satz auch sehr zufrieden sein. Damit ist es aber leider vorbei mit der Herrlichkeit, denn es folgt der besagte vierte Satz. Gut, Brahms hat es den Musikern im Gegensatz zu Britten, der die Ostinatostruktur funkensprühend in alle Richtungen verbiegt, schon nicht leicht gemacht, indem er sich hörbar durch die Struktur quält (was man von ihm freilich schon von der ersten Sinfonie kennt, dort allerdings aus anderen Gründen). Und an diesem Abend paßt sich das Orchester diesem Gestus leider an - alles wirkt steif, bemüht, eben gequält, so daß man wiederum spotten könnte, Brahms habe das Ostinatothema nicht der Bach-Kantate "Nach dir, Herr, verlanget mich", sondern derjenigen mit dem Titel "Ich habe genug" entnehmen sollen. Nicht einmal der kurze Tuttiausbruch taugt als reinigendes Gewitter, und auch die Tatsache, daß Helmrath und das Orchester zumindest die allgemeine Dynamikkurve halbwegs nachvollziehbar gestalten können, rettet diesen Satz nicht mehr. Schade drum, denn er überschattet dadurch ein durchaus gutes und mit einigen Glanzlichtern aufwartendes Gesamtprogramm.



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