www.Crossover-agm.de
Long Distance Calling, Sólstafir, Audrey Horne   07.03.2013   Leipzig, Conne Island
von rls

Sind Long Distance Calling bereits headlinerreif? Nimmt man den Gig dieses Abends als Maßstab, ist diese Frage mit einem eindeutigen Ja zu beantworten: Das Conne Island ist sehr gut gefüllt, und auch von den Publikumsreaktionen her liegen die größten Sympathien offensichtlich auf der Seite der Münsteraner, wenngleich auch ihr international besetztes Vorprogramm durchaus gute Resonanzen erfährt.
Als Opener spielen Audrey Horne, eine Band, die genau so viele Studioalben wie Long Distance Calling herausgebracht hat, der aber immer ein bißchen der Ruf der Kritikerlieblinge anhaftet. Der Grund zeigt sich auch an diesem Abend: Nach dem durchaus mitreißenden Opener "Going Nowhere" (kein Therapy?-Cover) versinkt der Set, beginnend mit dem Titeltrack der neuen Scheibe "Youngblood", nämlich lange Zeit in einer gewissen Gleichförmigkeit, zu der auch die Gitarristen ihren Beitrag leisten: Die Pose des Gitarresenkrechthaltens und der zweistimmigen Leads hat man als Zuschauer und -hörer nach einiger Zeit nämlich ein wenig über - so reizvoll solche Stilmittel in einer gewissen Dosierung auch sind, die Audrey-Horne-Gitarristen übertreiben es damit etwas und machen diverse Songs dadurch austauschbarer, als sie es bei einer detaillierten Analyse daheim unter Kopfhörern wahrscheinlich sind. Das Quintett klingt nach seinen noch etwas neogrungigen Anfängen mittlerweile eher nach einer metallisierten Fassung von Thin Lizzy und hat außerdem offenbar sein Bassistenproblem gelöst, denn der Bediener dieses Instrumentes ist zugleich in die Vocals mit eingebunden und entledigt sich dieser Aufgabe durchaus kompetent, wenngleich Toschies Führungsrolle nie in Frage steht. Der hat dafür unter einer absolut üblen Abmischung seines Mikrofons zu leiden, weshalb sein Gesang die ganze Zeit hindurch fast wie verzerrt klingt, während der Rest des Klangbildes zwar übertrieben laut, aber ziemlich klar aus den Boxen schallt. Erst Song 6 mit seinen ruhigen Breaks und der spannenden Modulation im Finale bringt dann auch wieder Unterhaltungswert in den Set, den das speedige "Straight To Your Grave" noch zu steigern vermag. Zum Schluß vollführen Sänger und Bassist sogar noch Synchrontanzeinlagen, so daß der freundliche Applaus noch etwas enthusiastischer gespendet wird und die Formkurve doch noch nach oben zeigt.
Sólstafir hatte der Rezensent vorab nicht so richtig auf der Rechnung, und so wird er doch recht angenehm überrascht. Klar, man muß den Willen aufbringen, sich auf die ewigen Wiederholungen bestimmter Passagen unter nur minimaler (aber vorhandener!) Variation einzulassen, und es muß auch die entsprechende Atmosphäre dazu herrschen. Auf dem PartySan-Festival anno 2009 fehlte die letztgenannte offensichtlich, und in Tobias' Review taucht unter den genannten Songs von damals auch keiner der vier auf, die an diesem Abend in der Setlist stehen. Mit "Ljós í Stormi" setzen die Isländer auch gleich den längsten Song an den Beginn des Sets, zudem denjenigen, in dem dieses Stilmittel der minimalen Veränderungen am stärksten ausgeprägt ist und wo man dementsprechend mehrere Minuten Einhörphase benötigt, um zu verstehen, was den Postrock dieser Truppe ausmacht (dagegen ist etwa das erste Violinkonzert von Philip Glass eine Ausgeburt der Progressivität und des Wandels). Gegenüber 2009 haben Sólstafir einen Mann weniger an Bord, und optische Analysen lohnen sich auch diesmal: Den auch singenden Gitarristen könnte man, ohne ihn vorher in die Maske schicken zu müssen, in jedem Wikingerfilm besetzen, der nicht singende Gitarrist sieht aus wie ein orthodoxer Jude, und rasierte man den Bassisten, man hätte Pippi Langstrumpf vor sich. Ergänzt durch einen optisch "normalen" Drummer (erwähnte ich, daß der nicht singende Gitarrist und der Bassist Hüte tragen?), fabriziert dieses Quartett Klänge, die Kollege Stefan zu Vergleichen mit Isis oder Sparta animieren, während der Rezensent an eine Postrockvariante Bathorys zur epischen Phase denkt. "Svartir Sandar" fällt etwas kürzer aus und erinnert in seinem mit Orchestersamples unterlegten Finale ein wenig an eine lebendigere Variante von Colosseums "Prosperity", während "Fjara" so etwas wie die "Hitsingle" Sólstafirs darstellt - sehr melodisch, eher kurz, zugänglich und schon beim Erklingen des Intros laut bejubelt. Offensichtlich haben die Isländer schon einige Fans im Publikum, und die Reaktionen fallen insgesamt auch sehr positiv aus. "Goddess Of The Ages" schließlich beginnt balladesk, wobei das Problem auftritt, daß der Sänger von den einzelnen eingeworfenen Gitarrenakkorden in der Entwicklung seiner Stimme etwas behindert wird, bevor der Song immer mehr an Intensität und Härte gewinnt und schließlich in einem sehr intensiven schnellen Finale mündet, in dem ewig kein Drumfill erklingt und man fast einen technoziden Eindruck gewinnt, der in diesem Fall aber als Bereicherung und nicht als Bedrohung wahrgenommen wird. Guter Gig!
Setlist Sólstafir:
Ljós í Stormi
Svartir Sandar
Fjara
Goddess Of The Ages

Long Distance Calling hatten ihr 2011er Album, das dritte insgesamt, selbstbetitelt gelassen und damit - ob nun bewußt oder nicht - angedeutet, den Zenit in ihrem Schaffen als Instrumentalband erreicht zu haben. Nur folgerichtig erschien deshalb der Schritt, den 2012 ausgestiegenen Keyboarder Reimut van Bonn durch Ex-Fear-My-Thoughts Martin Fischer zu ersetzen - der Neue kann nämlich nicht nur Keyboards spielen, sondern auch singen, und somit eröffnet er den Münsteranern ganz neue Möglichkeiten der Entwicklung, die sie auf ihren ersten drei Alben mit jeweils einem Gastgesangsbeitrag nur angekratzt hatten. Auch der Livewirkung ist der Sänger, der in den meisten Fällen dann auch als Frontmann agiert und seine Keyboardburg links hinten in der Ecke verläßt, natürlich ausgesprochen dienlich, wenngleich er so gut wie keine Ansagen übernimmt - das erledigt Gitarrist Florian, und er hält die Worte auch lieber knapp und läßt eher musikalische Taten sprechen. Die stammen an diesem Abend natürlich vorzugsweise vom neuen Album "The Flood Inside", allerdings fast immer im hübschen Wechsel eines neuen Songs mit einem älteren (nur "Tell The End" hätte bei ganz konsequenter Durchführung dieser Strategie einen Platz nach hinten rücken müssen), wobei alle vier Studioalben zum Zuge kommen. Entscheidende Unterschiede in der Publikumsresonanz lassen sich allerdings kaum feststellen, denn auch wenn das neue Album erst eine Woche auf dem Markt ist, so scheint das Material doch durchaus schon bekannt zu sein, wobei beispielsweise "Tell The End" auch auf dem "Lauschangriff"-Sampler des RockHard-Magazins stand, so daß auch der Rezensent, der das neue Album noch nicht gehört hat, dessen markante Eingangspassage wiederzuerkennen in der Lage ist. Der Sound ist klar genug, um die Entwicklungen in den fast durchgängig recht langen Songs mühelos nachvollziehen zu können, und einzig das Keyboard hätte man sich an mancher Stelle ein wenig deutlicher gewünscht. Und wenn wir gerade beim Wünschen sind: Am Kreieren eines Live-Gesamtkunstwerkes müssen Long Distance Calling noch arbeiten, um folgendes Szenario abzuwenden: Das Lied endet. Das Publikum jubelt. Der Jubel ebbt ab. Florian sagt drei Worte (oder auch nicht). Es entsteht eine Pause mit Stille, die nur gelegentlich von Instrumentenstimmgeräuschen unterbrochen wird. Die Spannung ist längst in sich zusammengefallen. Irgendwann beginnt der nächste Song. Dieses Szenario zieht sich nämlich mehr oder weniger durch die kompletten vielleicht anderthalb Stunden Spielzeit, und so richtig will es nicht zur ansonsten bis ins letzte Ende durchdachten Musik des Quintetts passen. Aber rein spielerisch überzeugen die Jungs natürlich, und um eine Zugabe lassen sie sich auch nicht lange bitten: Das episch ausgewalzte "Apparition" schließt einen interessanten Gig ab.
Setlist Long Distance Calling:
Waves (Intro)
Nucleus
The Figrin D'an Boogie
Inside The Flood
Black Paper Planes
Ductus
Tell The End
Arecibo (Long Distance Calling)
Aurora
The Man Within
Metulsky Curse Revisited
---
Apparitions



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver