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Leipziger Universitätsorchester   23.01.2013   Merseburg, Ständehaus
von rls

Schon seit etlichen Jahren gehört es zur Tradition des Leipziger Universitätsorchesters, sein jeweiliges Semesterprogramm nicht nur im Leipziger Gewandhaus, sondern auch zu einem Vorkonzert außerhalb der Messemetropole aufzuführen. Anno 2013 fiel die Wahl im Wintersemester auf Merseburg, wo mit dem Erhard-Hübener-Saal im Ständehaus ein optisch beeindruckender und akustisch zwar knochentrockener, aber keine Probleme verursachender Spielort gefunden worden ist. Unglücklicherweise hält sich der Zuspruch der kulturell ja nun wirklich nicht im Überreichtum schwelgenden Merseburger in Grenzen: Die Zahlen der Orchestermitglieder und der Besucher an diesem kalten Mittwochabend verhalten sich ungefähr so wie 3:1, und so hat das Konzert mehr den Charakter einer öffentlichen Probe.
Die Ouvertüre zur "Elverhøj"-Bühnenmusik aus der Feder von Friedrich Kuhlau bildet den ersten Programmpunkt, einen in nichtdänischen Konzertsälen eher selten zu hörenden noch dazu, aber einen wirkungsvollen und zudem im doppelten Sinne auch außerhalb seines eigentlichen Kontextes bekannten: Royalisten kennen die dänische Königshymne "Kong Christian stod ved højen mast", die im Schlußteil der Ouvertüre erklingt und deren endgültige Fassung auf Kuhlau zurückgeht, während Krimifans mit DDR-Vergangenheit sicherlich noch "Die Olsenbande sieht rot" in Erinnerung haben, wo Egon Olsen und seine Kumpane während einer Aufführung ebenjenes Stückes eine Vase und einen Geldkoffer stehlen, wobei sie für die geräuschintensiven Teile ihres Einbruchs geschickt die lauten Passagen der Musik ausnutzen, um nicht aufzufallen - eine der einfallsreichsten Szenen der Krimigeschichte überhaupt. Aber auch ohne diese Bilder vor Augen läßt sich das Stück mit viel Genuß anhören, zumal in einer so guten Interpretation wie an diesem Abend: Dirigent Raphael Haeger malt die Klanglandschaften mit gekonntem Pinsel, und das Orchester folgt ihm gern, wenngleich die ersten Violinen beispielsweise im Übergang zum schnellen Part ein wenig übers Ziel hinausschießen und voreilig agieren. Aber die große epische Breite bis dahin hat bestens funktioniert, der bruchlose Übergang in großen Bombast erfolgt fast lehrbuchreif, und der Bombast selbst darf cineastisch im besten Sinne genannt werden. Zwar sitzt nicht jede der späteren schwelgenden Passagen ganz tight, aber der Ausdruck stimmt, und spätestens die bereits angeführte Königshymne kann auch den letzten Zweifler mit ihrer Größe und Power überzeugen, wozu die direkte Saalakustik zweifellos ihr Scherflein beiträgt.
Philip Glass kennt man eher aus Kreisen der Minimal Music - ein Violinkonzert von ihm scheint ein seltsames Unterfangen. Aber es gibt tatsächlich eins bzw. seit 2009 sogar zwei; zur Aufführung an diesem Abend kommt das erste aus dem Jahr 1987, ganz klassisch in eine dreisätzige Form mit einem von zwei schnellen Außensätzen gerahmten langsamen Mittelsatz gegossen. Natürlich verleugnet Glass seine stilistischen Wurzeln nicht, aber er baut sie geschickt in den tradierten Rahmen ein. Schon in den ersten Orchestertakten baut Glass auf breite und keineswegs atonale Klangflächen, und auch Solist Luíz Phïlíp Coelho hat über weite Strecken ein Grundschema zu spielen, das nur von minimalen und erst in der Gesamtschau richtig übersehbaren Variationen geprägt ist - wie einst ein weiser Mann sprach, erinnert das an eine stundenlange Eisenbahnfahrt in den amerikanischen Weiten, wo beim Blick aus dem Fenster scheinbar auch wenig passiert und man erst bei der Ankunft feststellt, wie viel sich doch tatsächlich verändert hat. Coelho spielt eine recht dunkel tönende Storioni-Violine aus dem Jahr 1774, bleibt allerdings auch in den Tuttipassagen problemlos hörbar. Das Gesamtbild im ersten Satz gleicht großen, ruhigen Wogen, das Attribut "cineastisch" ist wieder mal nicht fern, und wie Coelho am Satzende schnelle Läufe und Katzenjammerpassagen über einen undeutlichen Teppich aus Streichern und Pauken legt, das tönt enorm spannend, zumal auch das Zusammenspiel von Solist und Orchester hier keine Wünsche übrigläßt. Reserven dagegen zeigt in dieser Hinsicht Satz 2, wo sowohl das Fagott als auch die Hörner einige Zeit brauchen, bis Einigkeit mit Coelho hergestellt ist. Böse Zungen würden speziell diesen Satz mit dem Begriff "Schmalz" belegen, aber man kann die kuschlig-entrückte Stimmung natürlich auch positiv sehen, und im populärmusikalischen Kontext spräche man hier von Ambient, der noch repetitiver ausgefallen ist als der erste Satz und einer klassischen Lineardynamik folgt, wobei ihn Haeger am Ende nicht bis zum Totalstillstand herunternimmt. Der dritte Satz überrascht erstmal mit den originellen Tempovariationen im Fagott, bevor auch er wieder sehr schichtungslastig ausfällt, allerdings bisweilen mit jazzigem Unterton (die kleine Trommel!), und wer eine Vorliebe für absonderliche Rhythmen hat, könnte hierzu fast das Tanzbein schwingen. Hier und da fühlt man sich sogar nach Bollywood versetzt, während der Analytiker eine ganz und gar praktische Einrichtung entdeckt: Wenn der Solist weiterblättert, übernimmt die Flöte für wenige Sekunden seine Arpeggioläufe. Die Spielfreude aller Beteiligten steckt jedenfalls an, und der originelle langsame Schluß fällt überraschenderweise völlig aus dem bisher gewohnten Schema. Die 34 Zuschauer sind begeistert und lassen Coelho nicht ohne eine Zugabe gehen: das Adagio aus Bachs g-Moll-Sonate BWV 1001, bedächtig und zurückhaltend interpretiert.
Aus der Pause wird das Publikum im Leipziger Gewandhaus mit den Anfangstakten aus Robert Schumanns Frühlingssinfonie geholt, aber dafür steht in Merseburg natürlich keine Tontechnik zur Verfügung - also spielt ein Hornist das markante Signal kurzerhand live. Und noch ein Kuriosum: Coelho läßt es sich bei der nun folgenden 1. Sinfonie von Jean Sibelius nicht nehmen, selbst im Orchester mitzuspielen, und zwar nicht etwa in Führungsposition, sondern bescheiden am 2. Pult der 2. Violinen - für einen Solisten keineswegs uninteressant, auch mal die Lage von der anderen Seite aus zu betrachten. Die enorm spannende Klarinetteneinleitung läßt auch für dieses Werk ein interessantes Hörerlebnis an diesem Abend erhoffen, und die Hoffnung trügt letztlich nicht - schon die planmäßige Niederbügelung der Klarinette durch die 2. Violinen und die passende Größe des ersten Tutti gelingen auf hohem Niveau, und diesem schließen sich noch mancherlei andere prima Leistungen an, seien es nun die hübsch vernebelten Harfeneinwürfe, die Kombination sinistrer Holzbläser über fiesen Tiefstreichern, der finstere Posaunenchoral oder der sehr dynamische Schluß des ersten Satzes. Zwar wackelt der Beginn des Lento ein wenig, und speziell die Hörner sind leicht nervös, aber auch in diesem zweiten Satz gelingt wieder viel Gutes: Die Studenten, immerhin allesamt keine Musikstudenten, beweisen ihre Fähigkeiten auch in kammermusikalisch anmutender und daher den Einzelnen in besonderem Maße fordernder Umgebung, Haeger bekommt zudem eine sehr gute Balance zwischen den fiesen Grollpassagen und der umgebenden Zurückhaltung hin, und der Satz endet fast friedlich. Im Scherzo geht es bisweilen recht forsch zu, aber der Schalter zur nordischen Romantik wird im richtigen Moment umgelegt, und nachdem Horn und Flöte ihre Dialoge anfangs noch etwas zu kantig gestalten, schwingen sie sich bald zu einer harmonischen Leistung auf. Haeger packt im richtigen Moment zu, und den etwas merkwürdigen Satzschluß kann auch er ja nur verwalten. Im letzten Satz wählt er eine die dortigen Zerklüftungen eher betonende Strategie, wozu der wieder etwas ruppige Charakter der kammermusikalischen Passagen bestens paßt. Die Dynamik erklimmt neue Höhen, und bei der Powerentwicklung hilft die Saalakustik wieder tatkräftig mit. Nach dem großen Ausbruch läßt Haeger allerdings alles fließen, auch in den schleppenden Temporegionen - erst kurz vor Schluß betont er die Zerklüftung wieder etwas stärker, schichtet noch einmal geschickt alles übereinander und fällt dann schlagartig zu den beiden Schlußzupfern ab, von denen der zweite ein wenig danebengeht, was aber die 34 Zuschauer nicht von Begeisterungsbekundungen abhält.
Nun ist das Universitätsorchester für seine witzigen Zugaben bekannt - nicht nur musikalisch, sondern auch mit außermusikalischen Anleihen angereichert. Diese gibt es auch jeweils schon bei den Vorkonzerten, allerdings noch nicht in dem Umfang, wie man sie dann im Gewandhaus erleben kann. Aber ein Teil der Violinfraktion spielt auch an diesem Abend schon mit bunten Spitzhüten, die Bläser proben das rhythmische Aufstehen im Takt der Musik, Haeger rockt gepflegt mit ab, und auf die rotierenden Celli müssen die Besucher auch nicht verzichten. Ach so, gespielt wird übrigens der Cancan aus Jacques Offenbachs "Orpheus in der Unterwelt", und der hält die gute Laune im Publikum natürlich problemlos weit oben. Die potenziert sich dann logischerweise drei Tage später im Gewandhaus nochmal, zumal dort auch nicht 34, sondern 1620 Zuschauer anwesend sind, inclusive der Jury für den Deutschen Jugendorchesterpreis 2013. Was die und alle anderen Besucher dann erleben durften, läßt sich hier mitverfolgen:
http://www.youtube.com/watch?v=itOSWhsyHOw



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