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Nemo, Carpe Noctem   25.01.2013   Jena, F-Haus
von rls

Same procedure as last year? Nicht ganz. Erstens ist der Rezensent diesmal pünktlich im F-Haus, dafür geht das Konzert später los als geplant. Zweitens finden deutlich weniger Besucher den Weg in die Lokalität. Und drittens ist im seit dem Gig vom Januar 2012 verstrichenen Zeitraum natürlich auch musikalisch einiges passiert, was Auswirkungen auf die Auftritte dieses Abends hat.
Zunächst betreten Carpe Noctem die Bühne und machen klar, daß sie ihrem originellen String Metal prinzipiell treu geblieben sind: Vor einer traditionell besetzten Rhythmusgruppe aus Baßgitarre und Schlagzeug agieren zwei Cellisten und ein Geiger, und gemeinschaftlich fabrizieren alle vielschichtigen Metal mit traditionellen, groovigen, folkigen und noch manch anderen Einflüssen, aber ohne Gesang - die beiden Gastsänger vom Januar 2012 sind diesmal nicht am Start. Dafür gibt es eine andere zentrale Neuerung: Eingeleitet mit "Penthesilea" spielen Carpe Noctem einen Akustikset mit insgesamt drei Songs, zu dem der Schlagzeuger in die hintere linke Bühnenecke wechselt, wo ein riesiger Gong, eine große Trommel aus dem Orchesterfundus und noch manch anderes Schlagwerk steht. Nun heißt Akustikset hier nicht "kuschelige Wanderklampfe" - da ist schon allein die besagte große Trommel vor, die dramatikdienlich eingesetzt wird und bisweilen derart intensive Geräusche von sich gibt, daß das ganze Saalparkett bebt. Weitere Neuerung sind diverse Neukompositionen im Set, die an diesem Abend ihre Uraufführung erleben und von denen gerade das erste, "An Untold Story", schön die Ambivalenz Carpe Noctems demonstriert: Die drei verarbeiteten Themen sind für sich genommen sehr interessant, aber in ihrer Verwebung und Verarbeitung tun sich noch Reserven auf, ist die Variationsbreite oftmals noch zu gering, soweit man das nach einmaligem Hören beurteilen kann, zumal unter den gegebenen Soundverhältnissen: Das rechte Cello, das nach metallischem Maßstab häufig die Rolle der Rhythmusgitarre übernimmt, ist im Gesamtklangbild nämlich leider deutlich unterrepräsentiert, während Geige und Drums einen Tick zu laut abgemischt sind, was die Erkennung des Mit- statt Nebeneinandermusizierens vor allem vor dem Akustikblock etwas erschwert. Zudem verwundert die Setdramaturgie partiell: Zwar stimmt die prinzipielle Spannungskurve, aber als Setcloser nun gerade das strukturell interessante, aber wenig mitreißende "B-A-C-H" zu wählen ist nicht zwingend des Pudels Kern, solange man Kracher wie "Intermezzo" oder die System-Of-A-Down-Coverversion "Toxicity" im Programm hat. Das Publikum stört sich daran freilich nicht, feiert das Quintett ab und fordert natürlich auch eine Zugabe ein, die in Gestalt von "Questionable" gewährt wird. Sollte man weiter im Auge behalten, die Jungs!
Auch bei Nemo ist im zurückliegenden Jahr einiges passiert, und da der Supportact Carpe Noctem lange genug feststand, gibt es einige überraschende Lösungen. Zum einen ist eine der Nemo-Violinen derzeit auf Weltreise, und so "lieh" man sich kurzerhand Carpe-Noctem-Friedrich aus. Zum zweiten ist die Flötenplanstelle wieder besetzt, aber Tinas Dudelsack und Jan-Markus' weitere Flöten bleiben trotzdem im verstärkten Maße im Einsatz. Zum dritten ist auf der rechten Bühnenseite mehr Platz - Gitarrist Peter ist nicht mehr dabei, Sebastian damit als einzigen Gitarristen zurücklassend, was allerdings sowohl bei Nightwish als auch bei Evanescence der Originalsituation entspricht, von Authentizitätspuristen also sogar als positives "Back to the roots"-Zeichen gewertet werden könnte, wenngleich es bei Nemo auf Authentizität nie ankam, sondern gerade die Umsetzung der Songvorlagen mit einer erweiterten Besetzung Quelle und Ziel des Bandprojektes darstellt. Zudem hat natürlich auch das Repertoire wieder Erweiterungen erfahren: Vom "Imaginaerum"-Werk war bis zum Januar-Gig 2012 aus Zeitgründen nur "Storytime" einstudierbar gewesen, aber diesmal beginnt das Konzert gleich mit "Taikatalvi", wenngleich man als Hörer einige Zeit braucht, um das zu erkennen: Zwar hört man Sebastians Mandoline gut und das Glockenspiel auch, aber Jan-Markus' Mikrofon ist viel zu leise eingestellt, und das wird sich während des ganzen Gigs auch nicht ändern - der kleine Mann mit der wandlungsfähigen Stimme und einer wieder mal veränderten Gesichtsbemalung ist physisch anwesend, aber außer in "The Islander" und "Inis Mona" praktisch nicht zu vernehmen und auch dort nur eher hintergründig. Spielt er Mandoline oder Flöte, sieht die Lage nicht anders aus - ein Kuriosum. Vielleicht ist's an anderen Stellen in der Halle auch anders; der Rezensent kann wieder mal nur von seinem Platz aus urteilen, der sich diesmal nicht in der 6. Reihe, sondern etwas weiter hinten zentral ungefähr auf halber Distanz zwischen Bühne und Mischpult befindet. Interessanterweise bleibt dieser soundliche Problemfall über weite Teile des Sets nahezu der einzige, sieht man von der Flötistin ab, die auch gerne mal ins akustische Nirwana gestellt wird, aber in "Angels Fall First", das Schlagzeuger Mirko einem vor genau 20 Jahren verstorbenen Familienmitglied widmet, so berührende Arbeit leistet, daß allein schon dieses Stück ihr Mitwirken rechtfertigt. Vor allem die Violinen aber hört man wie schon vor Jahresfrist recht gut, und obwohl hinterher manche Stimme im Publikum laut wird, es habe dem Gesamtsound an Power gefehlt, so ist das zwar prinzipiell nachvollziehbar, hätte aber in bezug auf die Gesamtbalance wohl eher eine Verschlimmbesserung erzeugt. Daran, daß Ellies Mikrofon einen Tick leiser eingestellt zu sein scheint als dasjenige Lucys, gewöhnt man sich beim Hören relativ schnell, und der Qualität der Duettpassagen tut dieses kleine Phänomen diesmal auch keinen Abbruch. Auch Tinas Dudelsack erfüllt seine Farbtupferrolle in Stücken wie "Over The Hills And Far Away" prima, und so steht einem ausgedehnten und intensiven Hörgenuß eigentlich fast nichts mehr im Wege. Songs wie "Wishmaster", "Dark Chest Of Wonders" und "Storytime" befeuern denn auch die Stimmung nachhaltig, der Bandnamensgeber rult sowieso (auf das von Nightwish auf ihrer Frühjahrstour 2012 gewagte Experiment, "Nemo" als Akustikfassung zu spielen, lassen sich Nemo nicht ein), und die Eluveitie-Anhänger im Publikum bekommen neben dem erwähnten "Inis Mona" sogar noch "A Rose For Epona" vom neuen Album "Helvetios" vorgesetzt, womit die Anzahl an Songs der Schweizer immerhin auf 40% derjenigen von Evanescence, einstmals ja als eine der beiden zentralen Projektsäulen gedacht, angewachsen ist. Soweit, so gut - drei Viertel des über zweistündigen Sets atmen all die Tugenden, die man von diesem originellen Bandprojekt gewöhnt ist. Dann aber legt während "I Want My Tears Back", einem weiteren Neuzugang der Setlist, jemand einen Schalter um, es gibt einen Bruch, und von da an geht fast alles schief, was nur schiefgehen kann. Beim besagten "I Want My Tears Back" fehlen zunächst ganze Zeilen Leadgesang. Danach wird das Experiment einer Verschmelzung von Carpe Noctem und Nemo gewagt - und es geht in die Binsen, nicht zuletzt weil die Zahl und Art der nun abzumischenden Instrumente nur noch ein sehr unausgewogenes, fast fragmentiert zu nennendes Klangbild erzeugt und weil die mehrminütigen Umbaupausen die Stimmung im Publikum rapide nach unten drücken, ohne daß irgendeine Kompensation erfolgt (man hat vier Leute mit Mikro auf der Bühne, aber keiner überbrückt diese Pausen). Den in dieser kombinierten Form dargebotenen zwei Songs "Ancient Times" und "Tavernenspiel" folgt unter Verbleib der Carpe-Noctem-Cellofraktion auf der Bühne eine schlappe Version von "Last Of The Wilds", die ihren intendierten Mitreißfaktor nie richtig entfalten kann, obwohl zumindest einige Menschen im Publikum die Reigentänze von Ellie und Lucy nachvollziehen. "My Immortal" fällt durchs Sieb, weil die Celli hier plötzlich den Leadgesang übertönen, und das ebenfalls aus dem Evanescence-Repertoire stammende und eher unauffällige "Whisper" ist in dramaturgischer Hinsicht ein denkbar schlechter Setcloser, nachdem schon zuvor der Spannungsbogen eher nach unten als nach oben gegangen war, wie eine gängige Konzertdramaturgie es erfordert hätte. Das zumindest partiell irritierte Publikum fordert natürlich trotzdem Zugaben und bekommt sie: "Ghost Love Score" in einer partiell durchaus interessanten, nämlich an dramaturgisch wichtigen Stellen mit Schlägen der großen Trommel ergänzten Fassung, die aber sonst soundlich auch völlig vor den Baum geht, zumal man bisweilen nicht mal mehr Christians Keyboards hört, was diverse Passagen ungewöhnlich reduziert und "geradlinig" macht. Von der mittlerweile fast mit Händen zu greifenden Nervosität läßt sich selbst Sebastian anstecken und baut am Schluß des Hauptsolos in "Sleeping Sun" ungeplante Variationen ein, wobei schon das Intro dieses Songs an ungewollter Punkigkeit nicht zu überbieten war, weil alle zu den unmöglichsten Zeiten einsetzen (und das, nachdem das gefürchtete "The Kinslayer"-Intro im Hauptset tadellos geklappt hatte). Komischerweise stören sich gute Teile des Publikums an diesem rapiden Formabfall nicht, wohingegen die Laune des Rezensenten, der sich während der ersten drei Setviertel trotz der geschilderten kleinen Probleme in gewohnter Weise bestens unterhalten und emotional angesprochen gefühlt hatte, nach diesem letzten Setviertel in der Nähe seiner Schuhsohlen angekommen ist. Schade drum. www.nemo-band.com informiert den interessierten Hörer, wann und wo er erfahren kann, ob die Formkurve demnächst wieder nach oben zeigt.
Setlist Nemo:
Taikatalvi
Storytime
Dark Chest Of Wonders
Kinslayer
Over The Hills And Far Away
A Rose For Epona
The Islander
What You Want
Wishmaster
Inis Mona
Nemo
Angels Fall First
Wish I Had An Angel
Bring Me To Life
Erase This
I Want My Tears Back
Ancient Times (Carpe Noctem)
Tavernenspiel (Carpe Noctem)
Last Of The Wilds
My Immortal
Whisper
---
Ghost Love Score
Sleeping Sun



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