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Nemo, Carpe Noctem   13.01.2012   Jena, F-Haus
von rls

Ein Freitag im Januar gegen 20 Uhr: Der Rezensent steigt mit etwas Verspätung in Altenburg ins Auto, um nach Jena zum alljährlichen Nemo-Gig im F-Haus zu fahren - vor einer roten Ampel an der am Parkplatz vorbeiführenden Straße steht ein Auto, aus dem mit hoher Lautstärke bekannte Klänge entweichen. Ohren gespitzt - richtig, es ist "Last Ride Of The Day" vom neuen Nightwish-Album "Imaginaerum". Abergläubische Zeitgenossen hätten diesen Songtitel in Kombination mit Freitag, dem Dreizehnten als Wink mit dem Zaunpfahl interpretiert, sich lieber nach Hause ins Bett zu verkrümeln, aber das ist natürlich alles Unfug, zumal die Straßen diesmal frei sind und außer eventueller überfrierender Nässe auch keine Unbilden angedroht wurden. Also "Last Ride Of The Day" als gelungene Einstimmung auf den Konzertabend interpretiert und auf nach Jena! Die Verspätung kann allerdings nicht mehr aufgeholt werden, und da Carpe Noctem offenbar pünktlich begonnen haben, entgeht dem Rezensenten das erste Drittel ihres Gigs. Das ist schade, denn der String Metal erweist sich als ziemlich unterhaltsam: Vor einer normal besetzten Rhythmusgruppe aus E-Baß und Schlagzeug agieren nämlich zwei Cellisten und ein Geiger, und das ergibt mancherlei interessante Klangkonzeption. Ganz ohne Gesang antreten wollten die Jenaer aber offensichtlich doch nicht, und so gibt es noch eine Nummer mit weiblichem Leadgesang (Alt- bis Mezzosopranlage, meist schön warm) und eine mit männlichem Lead- und weiblichem Backgroundgesang, wobei der Sänger gekonnt blitzartig zwischen Geschrei und pathetischem Klargesang wechselt, aber das Geschrei viel zu eindimensional und wie ein Fall für den Wick-Rachendrachen klingt. Aber auch ohne Gesang funktioniert das Material zweifellos, wie z.B. die Metalcore-Parodie "Questionable" beweist, wenngleich das Schreiben von "Hits" so um einiges schwerer erscheint, zumal Carpe Noctem zumindest im vom Rezensenten gehörten Teil des Sets auf von ihm identifizierbare Coverversionen verzichten. Der Bassist ist übrigens durchaus nützlich und nicht mit dem Argument "Apocalyptica brauchen auch keinen" wegrationalisierbar - er entlastet die beiden Cellisten von der Arbeit in der Rhythmusgruppe und ermöglicht diesen, wie die beiden Gitarristen einer klassischen Metalband zu arbeiten (in dieser Theorie würde dann der Geiger den Leadsänger mimen oder aber, was wahrscheinlicher ist, den Keyboarder, sofern der im Bandgerüst eine tragende Rolle spielt). Spieltechnisch sind alle Beteiligten jedenfalls hochgradig fit, die drei "Klassiker" bangen zudem fleißig, und auch die Soundverhältnisse passen sich dem hohen Niveau problemlos an und ermöglichen dem begeisterten Publikum das Durchhören auch der zahlreichen Einzelheiten. Die Freundin des Nemo-Keyboarders bringt den Rezensenten dann noch musikhistorisch auf eine interessante Spur: Hier und da tun sich Parallelen zu den Inchtabokatables auf. Auf das Album, welches das Quintett gerade einzimmert, darf man jedenfalls nicht nur als Apo- oder Inchties-Anhänger (denn in diesem Spannungsfeld ist die Hauptzielgruppe Carpe Noctems zu finden) gespannt sein.
Nemo haben keine globalen Änderungen vorgenommen, aber doch einige Verfeinerungen bzw. Erweiterungen: Es gilt prinzipiell natürlich immer noch, Material von Nightwish und Evanescence mit einer originellen und erweiterten Besetzung zu interpretieren, aber neben dem Was stellt sich natürlich immer die Frage nach dem Wie, und da gibt es neben dem neuen Bassisten noch ein paar Änderungen, nämlich zunächst Umbesetzungen in der Klassikfraktion, was in einer partiellen Erneuerung der Streicher und der Umkonzipierung der Flöte resultiert - die Blasinstrumente werden ab sofort also von anderen Bandmitgliedern übernommen, was bei Tinas Dudelsack ja schon immer so war. Instrumentelle Experimente wie die 2011er Violinzither gibt es diesmal nicht, aber dafür z.B. den Kunstgriff, Keyboarder Christian nicht nur die harschen Gesänge in "Wish I Had An Angel" übernehmen zu lassen, sondern ihn auch noch in die Backings von "The Islander" einzubinden, was richtig gut funktioniert (und der mit halber wilder Gesichtsmaske antretende, hier die Leadvocals singende Jan-Markus reproduziert wieder seine gute Leistung von 2011). Dazu wird Tinas Dudelsack auch noch besser ausgelastet, nämlich mit einer Setüberraschung, die weder aus dem Nightwish- noch aus dem Evanescence-Repertoire stammt: "Inis Mona" von Eluveitie (angekündigt als von einer Band stammend, die sich einen kompliziert aussehenden, aber leicht auszusprechenden Namen gegeben habe - ein Spaßvogel im Publikum brüllt daraufhin "Abba!") erklingt in einer rhythmisch wohl ungeplant aberwitzigen Version, bringt das Publikum aber dennoch problemlos zum Hüpfen, Bangen oder anderen Bewegungsabläufen. Ansonsten haben seit Januar 2011 sowohl Evanescence als auch Nightwish neue Alben vorgelegt, was das Songpotential ein weiteres Mal erhöht und auch genutzt wird: Sowohl "What You Want" und "Erase This" vom selbstbetitelten Album als auch "Storytime" von "Imaginaerum" stehen im Set, letzteres trotz sehr begrenzter Einprobezeit - und der Mut wird belohnt: Der Song funktioniert erstklassig. Daß dafür mal was anderes schiefgeht, kann passieren: Hier und da liegen die Frontdamen Ellie und Lucy, jede für sich problemlos überzeugend und sich kurioserweise stimmfärbungsseitig stärker aneinander angleichend, gemeinsam ein paar Centwerte auseinander, auf Christians Einsatz zu "Wish I Had An Angel" reagiert der Rest der Band gar nicht erst, und "Sleeping Sun" hat man auch schon mal flüssiger gehört. Aber das Gros des Sets klappt prima und wird zudem von einem erneut erstaunlich transparenten Sound gestützt, zumindest vom Standardstandplatz des Rezensenten in der 6. Reihe aus zu urteilen: Von den Streichern ist recht viel zu hören, auch die Abstimmung zwischen den beiden Frontmikros klappt während der Songs gut, wohingegen kurioserweise ein Teil der Ansagen kaum verständlich rüberkommt. Da diese sowieso etwas überdrehter ausfallen als 2011, störte das aber prinzipiell nicht, wenn es denn nicht die unkoordiniert anmutenden längeren Pausen zwischen manchen Songs gäbe, die sich nicht mit mangelnder Stringenz der Show erklären lassen. Da darf in Zukunft gern noch etwas gefeilt werden, während einige Feuersäulen und Silberlicht durchaus schon genügend fürs Auge bieten. In der Setlist dominieren Nightwish über Evanescence übrigens wieder mal deutlich, wobei der Nacken so manches Hörers gleich mit den vier Openern "Dark Chest Of Wonders", "She's My Sin", "Come Cover Me" und "Wishmaster" ziemlich strapaziert wird, "Nemo" mit Position 5 wieder mal recht früh kommt und "My Immortal" einen willkommenen Rückkehrer in die Setlist darstellt, auch wenn das furchtbar falsch mitsingende Konzertproletariat links neben dem Rezensenten das Aufkommen etwaiger eskapistischer Stimmung erfolgreich unterbindet. "Ghost Love Score" markiert diesmal nicht die erste Zugabe, sondern das Ende des regulären Sets, nach dem zunächst "auf Wunsch des Publikums", das "Nemo"-Sprechchöre intoniert, der gleichnamige Song wiederholt wird, bevor "Sleeping Sun" erklingt. Da das äußerst feierfreudige Publikum, nach einiger Anlaufzeit noch einen Tick enthusiastischer als das von 2011, gar keine Ruhe gibt, setzen Nemo schließlich ungeplant sogar noch "Going Under" dran, bevor der Vorhang endgültig fällt, aber Ellie und Lucy noch eine ganze Weile Autogramme geben müssen, was es in dieser Form auch noch nicht gab. Klasse Unterhaltung mal wieder und ein gelungener Einstieg ins Konzertjahr 2012 für den Rezensenten! www.nemo-band.com informiert über weitere Aktivitäten.

Setlist:
Dark Chest Of Wonders
She's My Sin
Come Cover Me
Wishmaster
Nemo
What You Want
Lithium
Last Of The Wilds
Over The Hills And Far Away
The Islander
Amaranth
Bring Me To Life
Storytime
Wish I Had An Angel
Erase This
My Immortal
Inis Mona
The Kinslayer
Ghost Love Score
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Nemo
Sleeping Sun
Going Under



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