www.Crossover-agm.de
Münchener Freiheit   07.07.2012   Wurzen, Parkfest
von rls

Die Überraschung war für die Uneingeweihten groß, als Stefan Zauner im Herbst 2011 nach über 30 Jahren Bandmitgliedschaft seinen Ausstieg verkündete, um fortan solo weiterzumachen. Zwar hatte seine Stimme in den Höhenlagen tatsächlich schon einige Einbußen verkraften müssen (immerhin war er ja auch schon 59 bzw. ist jetzt, zum Zeitpunkt der Niederschrift dieses Reviews, 60), die ihm manchen alten Song live doch unüberhörbare Schwierigkeiten bereiten ließen, wenngleich bestimmte Probleme oder Nicht-Probleme immer auch noch tagesformabhängig waren. Trotzdem: Aus einer etablierten, stabilen und gefragten Formation, die zudem nicht vor dem akuten Problem der typischen Revivalbands steht, nach langjähriger Pause ausschließlich vom alten Ruhm zu leben, sondern die kontinuierlich Alben veröffentlicht hat, von denen viele durchaus als stark bis sehr stark zu bezeichnen sind (allen voran das exzellente 2009er "Eigene Wege"-Werk), auszusteigen erfordert schon einiges an Überwindung, zumal dann, wenn man das kreative Schaffen dieser Band maßgeblich geprägt hat und als deren Gesicht und Stimme gilt. (Nebenbei bemerkt: Im nachhinein ist man natürlich immer schlauer, aber man glaubt fast irgendwelche Zwischentöne im Titeltrack von "Eigene Wege" zu hören, der von Gitarrist Aron Strobel komponiert und auch gesungen, aber von Zauner betextet worden war.)
Sei es, wie es sei: Die verbleibenden vier Bandmitglieder standen vor nicht leicht zu lösenden Fragen. Weitermachen? Wenn ja, mit einem neuen Sänger oder unter Beförderung eines der sowieso auch singenden Mitglieder zum Sänger? Und unter welchem Namen eigentlich? Letztlich ergab sich folgende Entscheidung: Weitermachen als Münchener Freiheit mit Stephan Thielen als Neu-Sänger, einem Mann aus dem Umfeld der Söhne Mannheims, der aber als Leadstimme noch nicht weiter in Erscheinung getreten war. Das rächte sich: Die Stimmbänder hielten die Dauerbelastung durch die notwendige intensive Probenarbeit nicht aus, und so machte sich drei Wochen vor dem für Ende März anberaumten ersten Konzert in der neuen Besetzung ein weiterer Wechsel notwendig, der Jörg-Tim Wilhelm in die Band führte, einen Jungspund, mit dem Bassist Michael Kunzi Jahre zuvor schon mehrmals gearbeitet hatte. Die Fanreaktionen der Dabeigewesenen auf das Augsburg-Konzert waren überwiegend positiv, nachdem zuvor eher Skepsis geherrscht hatte, die bei den Nichtdabeigewesenen auch im nachhinein partiell noch herrschte (nach dem Motto "Hört lieber auf, Zauner ist unersetzlich"). Jedenfalls steht Wilhelm nun auch ein reichliches Vierteljahr später noch am Frontmikrofon, und der Rezensent, der die Zauner-Besetzung in den letzten Jahren regelmäßig live gesehen hat, ist gespannt, wie sich der Neue in Wurzen machen würde.
Ähnlich gespannt zeigt sich das kopfzahlreiche Auditorium (das Konzert ist ins nach vielen Jahren wiederbelebte Parkfest eingebunden und kostet keinen Eintritt, zudem herrschen nach zwei Tagen üblem Wetter endlich wieder angenehme äußere Bedingungen, und der viele Regen der Vortage hat nicht einmal dafür gesorgt, das Gelände in moorige Beschaffenheit zu versetzen, so daß die Vorsichtsmaßnahme des Rezensenten, in Bergschuhen zu erscheinen, nicht nötig gewesen wäre), als nahezu pünktlich ein neues orchestrales Intro erklingt, das in "S.O.S." übergeht, wobei erst die vier altbekannten Bandmitglieder einer nach dem anderen auf der Bühne erscheinen und Wilhelm als letzter hinzustößt. Erste Analyseergebnisse, was er kann und was nicht, lassen nicht sehr lange auf sich warten. Zunächst bleibt festzuhalten, daß er viel mehr Bewegung auf die Bühne bringt und davon lediglich der inflationäre Einsatz der Winkergeste übertrieben wirkt - ansonsten hinterläßt das eher einen erfrischenden Eindruck. Zudem kommuniziert er viel mehr mit dem Publikum, selbst während der Songs - begeisterte Einwürfe wie "Aron an der Gitarre!", wenn dieser mal ein Solo spielt, hat man von Zauner nicht gehört. Da die Setlist allerdings so gestrickt ist, daß Strobel häufig seine Gitarre wechseln muß, macht sich die kommunikativere Herangehensweise Wilhelms während der Pausen zwischen den Songs durchaus gut, und mit der Zeit wird er auch noch lernen, wann man dann doch besser mal schweigt: Vor Alex Grünwalds Keyboardsolo, das die Einleitung zu "Sommernachtstraum" bildet, waren die anderen vier Bandmitglieder bisher immer wortlos von der Bühne verschwunden, und das war atmosphärisch einfach die bessere Lösung gegenüber Wilhelms unnötiger und pseudokomischer Ansage, die Bühne würde jetzt leer werden.
Die größte Frage ist aber natürlich, wie sich Wilhelm sängerisch schlägt. Und die bleibt ambivalent. Zum einen singt er tiefer als Zauner, was beispielsweise "Tausendmal Du" einen fast dumpfen Charakter verleiht, da es scheinbar nach unten transponiert werden mußte (wer im Gegensatz zum Rezensenten über ein absolutes Gehör verfügt, kann mal versuchen, den akustischen Beweis anzutreten), um es für die Stimme singbar zu machen. Und damit sind wir beim Hauptproblem: den Höhen. Zauner hatte sich hier in letzter Zeit bisweilen etwas nach unten fallen lassen, wenn es um die Linienwahl in mehrstimmigen Passagen geht - Wilhelm macht das auch oder nimmt bestimmte Herausforderungen gar nicht erst an. Tonschritte nach oben passen meistens, die Treffsicherheit von Tonsprüngen nach oben aber läßt sehr zu wünschen übrig, wie man beispielsweise in "Verlieben Verlieren" mehrmals schmerzhaft zu hören bekommt. Einige Songs gelingen zwar völlig ohne Probleme, etwa der wieder mal traumhafte "Sommernachtstraum", aber viele offenbaren doch noch deutliche Steigerungsmöglichkeiten, nein, Steigerungsbedarf, auch was den Stimmklang in den Höhen angeht. Zauner klang in den letzten Jahren da bisweilen etwas angestrengt, aber er war da eben auch schon fast 60. Wilhelm ist halb so alt und klingt in den Höhen auch angestrengt, was eigentlich ja nicht Sinn und Zweck der Sache gewesen sein dürfte. Dafür bemerkt man allerdings bei ihm die schauspielerische Stimmschulung, die es ihm leicht fallen läßt, etwa in "Kalt oder heiß" oder auch anderen ganz alten Songs einen fiesen, frechen oder ähnlich obskuren Tonfall anzuschlagen, wie es Zauner damals in den Studioversionen nur angedeutet und live nie ausgestaltet hatte. Außerdem löst Wilhelm das alte Problem des oftmals hilflos wirkenden Sprechgesangs in "Ich will dich nochmal", indem er dort zumindest in der ersten Strophe in eine Art Flüsterton verfällt - ein geschickter Schachzug, der gern auch auf die zweite Strophe ausgedehnt werden darf.
"Kalt oder heiß" ist ein gutes Stichwort: Was durfte von der Setlist erwartet werden? Nun, die Band ist auf Nummer sicher gegangen, hat alle Songs mit Entstehungsdatum später als 1994 ("Energie") eliminiert und dafür ein paar Überraschungen von den ersten drei Alben ausgegraben, die wie erwähnt Wilhelms Stimme mehr entgegenkommen als spätere Songs. So steht die allererste Single "Zeig mir die Nacht" wieder im Set, "Rumpelstilzchen" und "Kalt oder heiß" sind im neuen Jahrtausend bisher nur sehr selten gespielt worden, und an eine Livewiedergabe von "Melancholie" kann sich der Rezensent gar nicht erinnern. Dazu landen einige temporär verbannte Songs wie "Herzschlag ist der Takt" und "Es gibt kein nächstes Mal" wieder im Set - und leider auch die Bandversion von "So lang man Träume noch leben kann". Da hatte der Rezensent doch geglaubt, daß mit dem Spielen dieses Songs als Outro vom Band die ultimative Lösung für die nicht adäquate Liveumsetzbarkeit gefunden worden war - und dann sowas. Okay, die bisherige ganz schwachbrüstige Fassung ist nochmal umarrangiert und unter anderem mit einigen künstlichen Orchestertürmen und einem zugegebenermaßen genialen fugierten Gesangsfinale ausstaffiert worden, aber so richtig reißt einen auch die neue Fassung nicht vom Hocker. Einige andere Umarrangements machen sich durch die Instrumentenverteilung notwendig: Zauner hatte bei vielen neuen und auch einigen alten Songs zweite Gitarre oder zweites Keyboard gespielt - Wilhelm tut das nicht (er greift nur bisweilen mal zum Schellenkranz), so daß die wenigen diesbezüglichen Songs, die im Set verblieben sind (die neuen fehlen ja alle), noch geringfügige, aber doch hörbare Anpassungen erfahren haben. Was sich dagegen nicht verändert hat, ist die Struktur des hinteren Setteils: Auf "Ohne dich (schlaf ich heut nacht nicht ein)" (sprechen die komischen Schwankungen im Keyboardsound des Intros für ein drohendes Abkacken der Technik, oder sollen sie tatsächlich künstlerisches Stilmittel sein?) folgt "Ich steh' auf Licht", das man allerdings schon zupackender gehört hat (überhaupt ist der Gesamtsound zwar laut, aber irgendwie energiearm - das hat man schon besser gehört, etwa in Wernesgrün 2009, und zudem läßt in der ersten Hälfte auch die Klarheit einiges zu wünschen übrig, denn gerade von den Backing Vocals Strobels und Kunzis hört man da nur sporadisch etwas, was Wilhelm noch stärker im Regen stehen läßt als aufgrund der strukturellen Lage sowieso schon), als Zugabenblock "Oh Baby" ("Tausend Augen" ist in den Hauptset zurückgewandert) und "Bis wir uns wiedersehn" - und dann bleibt die große Frage, ob Wilhelm Schlagzeug spielen kann, um Zauners Rolle auch beim traditionellen Abschlußcover einzunehmen. Antwort: Ja, er kann es - wobei man die Antwort auch schon hätte wissen können, hätte man die neue Bandbiographie gelesen, denn dort ist vermerkt, daß Wilhelm in seiner allerersten Band zunächst Drums spielte, bevor er ans Frontmikro wechselte. Seine heutigen Fähigkeiten an diesem Instrument reichen auf alle Fälle für Joan Jetts "I Love Rock'nRoll" - der Unterhaltungswert des Songs stimmt wieder mal, wenngleich der personelle Umbruch doch eigentlich eine ideale Gelegenheit gewesen wäre, auch mal wieder ein neues Abschlußcover auszugraben ... Chance verpaßt, leider.
Was bleibt als Fazit? Wilhelm ist, was bei den riesigen Fußstapfen, in die er treten muß, keine Selbstverständlichkeit darstellt, vom feierfreudigen, wenngleich nicht unbedingt enthusiastisch zu nennenden Wurzener Publikum (das aufgrund der strukturellen Lage des Konzertes keineswegs nur aus Die-Hard-Anhängern bestand) ohne Wenn und Aber akzeptiert worden - es fühlt sich jedenfalls niemand berufen, den Fehrbelliner Reitermarsch mit der Textvariation "Wir wollen unsern guten Stefan Zauner wiederhab'n" zu intonieren. Trotzdem bleiben deutliche gesangliche Schwächen zu konstatieren, die man vielleicht beim ersten Konzert (für das Wilhelm ja wie geschrieben nur drei Wochen Vorbereitungszeit hatte) noch mit einem wohlwollenden Schulterzucken hätte quittieren können, nicht aber bei einem Folgekonzert ein Vierteljahr später. So muß dem Eindruck dieses Konzertes gemäß die Frage für die Zukunft "Proberaum oder Auswechselbank?" heißen, wobei allerdings noch abzuwarten bleibt, wie Wilhelm mit den bereits in Arbeit befindlichen Songs des neuen Albums, die ja auf seine Stimme zugeschnitten sind, zurechtkommen wird (wer sich an den Wechsel von Tarja Turunen zu Anette Olzon bei Nightwish erinnert, wird möglicherweise einige interessante Parallelen entdecken). Bleiben wir also schön neugierig ... www.muenchener-freiheit.eu hält den Interessenten über die weitere Entwicklung auf dem laufenden.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver