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Ray Wilson & The Berlin Symphony Ensemble   16.03.2012   Dresden, Kulturpalast
von rls

Ray Wilson ist eine Art multiple Persönlichkeit: Glückspilz und Pechvogel zugleich, dazu Stehaufmännchen, Multitalent und noch so manches mehr. Eines seiner aktuellen Projekte trägt den Titel "Genesis Klassik". Wilson, mit Stiltskin zum zweifelhaften One-Hit-Wonder-Status gelangt, war bekanntlich Phil Collins' Nachfolger als Sänger bei Genesis und hatte das Pech, daß das von ihm eingesungene "Calling All Stations"-Album zwar gar nicht so schlechte Verkaufszahlen erreichte, aber mit seinen übermächtigen Vorgängern diesbezüglich nicht konkurrieren konnte und zudem den stilistischen Spagat versuchte, Fans der mittleren und der jüngeren Phase gleichermaßen zufriedenzustellen, damit aber letztlich zwischen den Stühlen landete. So stellten Genesis ihre Aktivitäten ein (und haben sie, von einer 2007er Tour mit Collins abgesehen, auch nicht wieder aufgenommen), und Ex-Glückspilz Wilson mußte wieder sehen, wo er blieb. So richtig reüssieren konnte keines seiner Folgeprojekte, obwohl etwa das "She"-Album durchaus starke Songs enthielt, wie Kollege Georg zu Recht feststellte. Verwerflich ist es also keineswegs, wenn Wilson versucht, aus seiner Genesis-Vergangenheit Kapital zu schlagen - zumal dann nicht, wenn er es in der Qualität tut, wie sie an diesem Abend geboten wird.
"Genesis Klassik" könnte man ja doppelsinnig interpretieren, einerseits als Ansammlung von Genesis-Klassikersongs, zum anderen als Set mit Genesis-Songs, interpretiert von klassischen Musikern. Die Bühnenaufteilung macht schnell klar, daß die zweite Variante zutrifft, allerdings nicht in ihrer puren Form. Der Klassikanteil beschränkt sich nämlich auf ein Streichquartett in üblicher Besetzung, also zwei Violinen, Viola und Violoncello, sowie auf einen Pianisten, wobei letzterer außer dem kleinen schwarzen Flügel alternativ auch noch ein Keyboard bedient und dann zum Rockteil der Besetzung gehört, der durch zwei Gitarristen, einen Bassisten und einen Drummer komplettiert wird. Dazu kommt natürlich noch Wilson selbst, nachdem das instrumentale Intro zu "Congo" aus technischen Gründen nach der Hälfte abgebrochen und nochmal gespielt wird. "Congo" stammt, wie der Genesis-Kenner weiß, vom "Calling All Stations"-Album, und es ist natürlich keine Überraschung, daß diverses Material dieses Albums in der Setlist auftaucht und in Liveform einen durchaus starken Eindruck hinterläßt, allen voran "Congo" selbst mit seinen ausladenden groovigen Instrumentaleinlagen. Mit "Jesus He Knows Me" geht es recht flott weiter - einen Tick zu flott vielleicht sogar. Denn das ist ein Hauptproblem des ganzen Abends: Wilson und seine Damen und Herren bersten förmlich vor Energie, was sich zwar nicht in feisten Metalversionen äußert, aber darin, daß sie etliche Stücke doch recht flott und energisch nehmen und damit nicht immer die original vielleicht gewollte Intention treffen. Gut, bei "Another Day In Paradise" hat das sogar Vorteile, da man nie in die Mir-tut-alles-so-leid-Gutmenschenecke abzudriften gefährdet ist, aber "Follow You, Follow Me" weiß in dieser Art nicht zu gefallen, und "In The Air Tonight" geht trotz Singer-Songwriter-Gestus (also nur Stimme und Akustikgitarre) durch die von Wilson und dem Publikum gleichermaßen erzeugte Unruhe stimmungstechnisch völlig in die Binsen, was kurioserweise im Publikum kaum jemanden zu stören scheint. Was Wilson im balladesken Fach zu leisten imstande ist, zeigt er gleich an Setposition 4: "Hold On My Heart" gelingt hochemotional und ist in der ersten Strophe für eine Gänsehaut gut - für eine zweite arbeiten aber auch dort in der zweiten Strophe die Drums einen ganz kleinen Tick zu laut. "Shipwrecked", einen weiteren Beitrag von "Calling All Stations", bestreitet Wilson im Fast-Alleingang mit Pianist Philipp und Geigerin Alice (letztere scheinbar im wesentlichen aus Beinen bestehend), und auch dort weiß er hoch zu punkten. Die härteren Songs dagegen leiden bisweilen unter Balanceproblemen - wenn die Gitarren braten, hört man etwa in "No Son Of Mine" (das aber trotzdem auch für eine Gänsehaut gut ist) das Streichquartett kaum noch. Das bessert sich erst im sehr bombastischen "Calling All Stations" unmittelbar vor der Pause. Spielfreude herrscht hier allerdings en gros, wie auch der zweite Setteil eindrucksvoll unter Beweis stellt, in "Ripples" einen fulminanten Gipfel erklimmend, aber im richtigen Moment auch wieder herunterschaltend, wie Geigerin Barbara in Tateinheit mit dem Pianisten im Duett "Entangled" beweist, bevor Alice und sie sich ein klassisches Geigenduell liefern und sich gegenseitig mit Themen aus Vivaldis "Frühling" bewerfen. Mit der starken Powerballade "First Day Of Change" erklingt auch die aktuelle Single von Wilsons Band - er hat zum überwiegenden Teil bewährte Kräfte an seiner Seite, die teilweise auch schon auf dem "She"-Album bzw. der zugehörigen und mit einem Livealbum dokumentierten Tour aktiv waren, und an die Rhythmusgitarre hat er seinen älteren Bruder Steve geholt, mit dem er schon vor Stiltskin gearbeitet hatte. Steve darf "All I Need Is A Miracle" dann auch gleich an vorderster Front als Leadsänger bestreiten, wobei er nicht an Rays erstklassige Leistung herankommt, aber seine Sache trotzdem nicht schlecht macht - die Saitenartisten der Rockfraktion legen bisweilen gekonnt bis zu dreistimmige Backings unter Rays Leadvocals, und die emotionalen Fähigkeiten von Leadgitarrist Alisdair müssen auch nochmal gesondert hervorgehoben werden. Wer sich über einige der Songtitel gewundert hat: Ja, es gibt auch Solomaterial von Ex-Genesis-Mitgliedern zu hören - "All I Need Is A Miracle" stammt bekanntlich von Mike & The Mechanics, für "Another Day In Paradise" und "In The Air Tonight" scheffelte Phil Collins Millionen, und den Zugabenblock eröffnet dann auch noch Peter Gabriels "Solisbury Hill". Davor hätte eine mächtige Version von "Land Of Confusion" den perfekten Closer des regulären Sets abgegeben, wenn zur Begeisterung des Publikums nicht noch das neandertalerkompatible "I Can't Dance" nachgeschoben worden wäre, das zur Entgeisterung des Rezensenten auch im Arrangement dieses Abends seine Neandertalerkompatibilität nicht verliert (die Neandertaler mögen dem Rezensenten verzeihen, hier ins schlechte Licht gerückt worden zu sein). Der Zugabenteil endet nach etwas über zwei Stunden Nettospielzeit mit "Inside" - der einzige Stiltskin-Hit ist natürlich ein Klassesong, für einen mit "Genesis Klassik" überschriebenen Abend, an dem etwa "Turn It On Again" oder "I Know What I Like (In Your Wardrobe)" nicht erklungen sind, an dieser Stelle aber doch eine eher merkwürdige Wahl. Das macht freilich nichts: Der Eindruck des Konzertes ist ein überwiegend positiver, hier und da kommt gar Euphorie auf, etwa bei dem vor allem ab dem zweiten Konzertteil immer unruhiger werdenden Herrn auf dem Sitz rechts neben dem Rezensenten: "Ich nehme alles zurück, was ich bisher über den gesagt habe."



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