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Pain Of Salvation, Cryptex   09.03.2012   Gera, Comma
von rls

Prog ist in den neuen Bundesländern tot, besagt eine Binsenweisheit. Oder doch nicht? Immerhin, es gibt eine Handvoll Enthusiasten, die sich gegen die scheinbare oder reale Agonie stemmen und versuchen, der Szene den einen oder anderen Impuls zu geben, und zu diesen Offerten gehört seit besagtem Freitagabend auch das Proghaus-Projekt in Gera, das in Zukunft vierteljährlich Konzerte von Acts des erweiterten Progspektrums von Artrock bis Metal veranstalten will, wenn, ja wenn der potentielle Besucher in größerer Anzahl auch zum realen wird. Die Besucherzahl bei der Auftaktveranstaltung liegt jedenfalls irgendwo zwischen Gut und Böse und füllt den großen Saal im Kulturzentrum Comma nur zur Hälfte, und das, obwohl mit Pain Of Salvation eine populäre (und polarisierende!) Könnerband auf der Bühne steht, die nicht an jeder Steckdose zu erleben ist. Aber die Nichtanwesenden verpassen etwas, denn die Anwesenden erleben, soviel sei vorweggenommen, ein richtig gutes Konzert.
Dazu trägt auch die Vorband ihr Scherflein bei, und sie macht eigentlich alles richtig: 20 Uhr weiß so gut wie niemand etwas mit dem Namen Cryptex anzufangen. 20.10 Uhr, als der Rezensent eintrifft, inszeniert der Sänger gerade ein Mitsingspielchen, das vom Publikum dankbar aufgenommen wird. 20.45 Uhr, als die Band sich verabschiedet, tobt der Saal und ist bester Stimmung. Die Kerls sind gerade mal zu dritt, aber mit einem klassischen Triosound hat das, was sie machen, nur selten etwas zu tun. Die Stilvielfalt erinnert bisweilen ein wenig an Led Zeppelin, deren "Whole Lotta Love" auch mal locker angejammt wird, aber ansonsten sind Cryptex schwer zu klassifizieren und am einfachsten mit dem Begriff "Rockmusik" zu umschreiben, wenn sie nicht gerade mal eine Ballade für Stimme, Drums, Klavier und Glockenspiel in Szene setzen. Da alle drei Bandmitglieder Multiinstrumentalisten sind, fällt das Erzeugen der Klangvielfalt auch erstmal nicht schwer und erfordert lediglich ein gewisses Koordinationsvermögen. Das liest sich leichter, als es getan ist - aber mit hohem Einsatz verlassen Cryptex auch hier nicht die Ideen, selbst wenn der Drummer mal fix vom Cajón, das er vorn am Bühnenrand gespielt hat, nach rechts hinten sprinten muß, um rechtzeitig zum nächsten Break wieder am Schlagzeug zu sitzen, oder der Sänger/Keyboarder/Bassist sich all diesen Tätigkeiten gleichzeitig widmet. Einige Baßgitarren und Loops, die praktisch aufgrund der Auslastung der vorhandenen Kapazitäten nun wirklich nicht anders umzusetzen waren, kommen vom Band, aber sonst ist bei Cryptex alles echt und ohne doppelten Boden. Und wäre das noch nicht beeindruckend genug, haben sie mit dem Frontmann auch noch einen prima Entertainer an Bord, der es versteht, ein Publikum um den Finger zu wickeln, ohne dabei peinlich rüberzukommen. Ein erstklassiger Sänger ist er "nebenbei" auch noch, wobei seine Klargesänge eine metallische Schärfe in der Stimme offenbaren, an die man sich erst gewöhnen muß, während er im fast gleichen Atemzug aber auch eine prima Rockröhre abgibt, die dem Vergleich mit Robert Plant im genannten "Whole Lotta Love" durchaus standhält. Solange der deutsche Underground solche Bands hervorbringt, muß man sich um seine Zukunft keine Sorgen machen. Die aktuelle Cryptex-Platte trägt übrigens den kryptischen Titel "Good Morning, How Did You Live?" - noch Fragen?
Pain Of Salvation gehören zu den Bands, die sich vom "konventionellen Prog Metal" seit Debützeiten schrittweise wegbewegt haben und eben dadurch polarisieren: Wer nicht bereit ist, sich auf Veränderungen einzulassen, hat es schwer mit ihnen, obwohl sie nun nicht von heute auf morgen sämtliche Konventionen über Bord werfen und plötzlich etwas ganz anderes machen. Und die Tatsache, daß es diverse Projektphasen mittlerweile doppelt gibt, also "Scarsick" als quasi zweiten Teil von "The Perfect Element" und die von vornherein gedoppelte aktuelle "Road Salt"-Phase, erlaubt zudem eine längere Einarbeitungszeit, ohne globalere Änderungen befürchten zu müssen. Freilich überrascht die Band die Zuhörer auch so immer mal wieder, etwa mit einer Fülle von Umbesetzungen in der letzten halben Dekade, nachdem das Line-up zuvor lange relativ konstant geblieben war. Aktuell ist etwa Gustav Hjelm, der schon zu Anfang des Jahrtausends Baß gespielt hatte, wieder an Bord. Und Mastermind Daniel Gildenlöw scheint großes Vertrauen in seine derzeitige Mannschaft zu haben - sonst würde er ihnen nicht schon in "Softly She Cries", dem Opener, umfangreiche Anteile der Lead Vocals überlassen. Das steigert sich später im Finale der Zugabe "The Physics Of Gridlock" noch bis zum vierstimmigen Satzgesang in teils fugierter Form, an dem außer dem Keyboarder alle Bandmitglieder teilhaben, also auch der Drummer. Den hat man übrigens an den rechten Bühnenrand gesetzt und läßt ihn um 90 Grad gegenüber der "normalen" Richtung verdreht spielen, im Gegensatz zu Mike Terrana beim 2011er Tarja-Gig in Leipzig allerdings ebenerdig und nicht auf einem Podest. Podeste stehen dafür im hinteren Bühnenbereich, und diese werden immer mal wieder von einem Bandmitglied besetzt, das sie dann teilweise im Sprung wieder verläßt, was im Verbund mit ausgeklügelter Bühnenausleuchtung eine Art Mixtur zwischen Theater- und Postrockattitüde ergibt. In "Healing Now" wiederum rückt die Band rechts eng zusammen, entfacht eine Art Lagerfeuerromantik und spielt auf Mandolinen, einen wirkungsvollen Kontrapunkt zu breitwandigen Kompositionen wie "Perfect Element" setzend. Von der Setlist her dominiert natürlich das aktuelle "Road Salt"-Material, aber mit "Stress" kommt immerhin sogar das "Entropia"-Debüt zum Zuge - Gildenlöw steht also nach wie vor zu seiner Vergangenheit, und die war ja auch schon damals hochgradig interessant. Freilich muß man sich auf das teilweise äußerst vertrackte Material einlassen können und wollen - das tun nicht alle Anwesenden an diesem Abend, und ganz vereinzelt hört man Stimmen der Marke "gut gemachte Langeweile". Die bleiben allerdings klar in der Minderheit, denn eigentlich knistert spätestens bei "Ashes" die Luft vor Spannung, und das ist nach dem Doppelintro "Let The Sunshine In" (aus dem "Hair"-Musical)/"Road Salt" und dem Opener "Softly She Cries" grade mal der zweite Song. Bis dahin hat man schon die erwähnten Vokalarrangements irgendwo zwischen Van Halen und Kansas schätzen gelernt, und emotionaler als im balladesken Teil von "1979" kann man auch fast kaum noch musizieren. So ganz nebenbei präsentieren sich Pain Of Salvation aber auch noch als Scherzkekse erster Kajüte. Da läßt Gildenlöw schon mal seinen Drummer das Publikum in französischer Sprache auffordern, näher an die Bühne zu rücken, da erklingt vor "Stress" auf einmal ein Riff, das dem Rezensenten aus einem anderen Kontext bekannt vorkommt (der ebenfalls anwesende Kollege Christian Meißner schaltet einen Tick schneller und identifiziert es als "Too Late For Love" von Def Leppard), und dann tauchen auf der aktuellen Tour immer mal Kiss-Covers in den Setlisten auf, etwa "Black Diamond" oder an diesem Abend in Gera "Shock Me" als Closer des regulären Sets. Um eine andere Coverversion kommt das Publikum aber herum: Bryan Adams' "Summer Of 69" steht in der ausgedruckten Fassung der Setlist verzeichnet, wird aber ersatzlos gestrichen. Und was zum Leidwesen des einen oder anderen Anwesenden auch ausbleibt, ist das kultige "Disco Queen" vom "Scarsick"-Album. Macht aber nichts: In den hochemotionalen Zugabenteil hätte es sowieso nicht so richtig gepaßt, der da mit "Physics Of Gridlock" noch ausladendere Elemente beinhaltet, bevor der erwähnte vierstimmige Gesangspart kommt, und der schließlich mit "Sisters" ein überraschend düsteres, aber ergreifendes Ende findet, das einem überragenden Gig (mit übrigens recht klarem, nur einen Tick zu lautem und die Keyboards ein klein wenig zu stiefmütterlich behandelnden Soundgewand) die Krone aufsetzt. Mehr davon? Gern! www.sbgera.de nennt die nächsten Termine.

Setlist Pain Of Salvation:
Softly She Cries
Ashes
Linoleum
The Deeper Cut
1979
To The Shoreline
Chain Sling
Iter Impius
Ending Theme
Perfect Element
Stress
Healing Now
Kingdom Of Loss
No Way
Shock Me
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Physics Of Gridlock
Sisters



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