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Amorphis, Leprous, The Man-Eating Tree   26.12.2011   Jena, F-Haus
von rls

Die Homepage des F-Hauses nennt einen Konzertbeginn von 20 Uhr, aber als Kollege Christian zu dieser Zeit am Ort des Geschehens eintrifft, haben The Man-Eating Tree ihren Gig bereits beendet, was eine Berichterstattung zwangsweise unmöglich macht, da auch der hier tippende Rezensent erst 20.10 Uhr da ist - mit einem solch barbarischen Zeitmanagement kann ja nun keiner rechnen. Immerhin scheint ein beträchtlicher Teil des Publikums schon früher von Familienfeiern oder ähnlichen Events geflüchtet zu sein, denn 20.10 Uhr ist der Saal schon recht gedrängt voll, und somit müssen The Man-Eating Tree offensichtlich zumindest nicht vor leeren Rängen gespielt haben. Die konkrete Berichterstattung hier beginnt aber erst mit Leprous. Die überraschen auf den ersten Blick: Haben sie Tomi Joutsen von Amorphis abgeworben? Nein - der Leprous-Sänger hat nur ähnlich lange Dreadlocks wie Joutsen, und die setzt er auch ähnlich gerne als bangende "Waffe" ein wie sein Kollege von Shadows Fall. Musikalisch bearbeiten die Norweger allerdings eine ganz andere Baustelle, näht Progrock und Progmetal zusammen und baut noch ein paar am Postrock kratzende Flicken mit ein. Darüber liegt ein hoher und flächiger Leadgesang, der kurioserweise etwas an a-ha-Landsmann Morton Harket zu dessen besten Zeiten erinnert, und wenn die beiden Gitarristen auch noch mitsingen, entstehen hier und da lupenreine Satzgesänge wie im Finale des vierten Songs. Daß Leprous in ihrer durchaus nicht kurzen Spielzeit nur sieben Songs unterbringen, spricht Bände bezüglich der ausladenden Konzeption: Wenn sie glauben, Zeit zum Entwickeln ihrer Ideen zu brauchen, dann nehmen sie sich die auch. Oft halten sie die Spielgeschwindigkeit eher unten und bauen langsam Spannung auf, die sich dann hier und da eruptiv entlädt, und ab dem zweiten Song versteht der Soundmensch das ganze Gebräu auch so transparent zu machen, daß man die Ideenentwicklung gut nachvollziehen kann, wenngleich speziell die ebenfalls vom Sänger gespielten Keyboards hier und da etwas zu weit im Abseits landen. Das Gros des Materials stammt vom aktuellen Album "Bilateral", aber auch der Opener "Passing" vom "Tall Poppy Syndrome"-Vorgänger erklingt, und das Instrumental an dritter Setposition müßte auch anderer Herkunft gewesen sein. Übrigens treten die Norweger mit einem Ersatzbassisten an, der auch nicht eben viel Zeit zum Einstudieren des Sets hatte - was in anderen Fällen relativ unproblematisch wäre, erfordert bei Material wie dem von Leprous dann doch einiges an Können und Einfühlungsvermögen, und diese Eigenschaften besitzt der Ersatzmann offensichtlich, denn er spielt mehr als solide seinen Stiefel und hält sich nur bei der Bühnenshow zurück, welche hauptsächlich vom Sänger und dem langhaarigen der beiden Gitarristen gestemmt wird. Daß der Sänger und sein anderer Gitarrenkollege die gleichen roten Hosen (!) tragen, kommt als Kuriosum hinzu, und im großen Finale des Setclosers treten zur bisherigen Mixtur auch noch deathmetallische Gesänge aus der Kehle ebenjenes rotbehosten Gitarristen. Das Publikum zeigt sich von den Norwegern zu gleichen Teilen überrascht und überfordert (kaum jemand dürfte vorher mit dem Material vertraut gewesen sein, obwohl Leprous schon zwei reguläre Alben und zwei Eigenproduktionen draußen haben, von welchletzeren die erste aus dem Jahre 2004 witzigerweise auf den auch aus dem Amorphis-Lager bekannten Titel "Silent Waters" hört), spendet allerdings deutlich mehr als Höflichkeitsapplaus, und bei einigen geht die heruntergeklappte Kinnlade lange nicht wieder hoch. Kollege Christian fühlt sich übrigens oftmals an Psychotic Waltz erinnert, und das ist als hochgradiges Kompliment für Leprous zu verstehen.
Eine halbe Stunde Umbaupause und ein ein seltsames Rhythmusgefühl beim mitklatschenden Publikum offenbarendes Intro später kommt wieder ein Sänger mit langen Dreadlocks auf die Bühne, und diesmal ist es tatsächlich Tomi Joutsen. Den erlebt der Rezensent an diesem Abend zum ersten Mal - 2003 bei seinem ersten und bisher auch einzigen Liveerlebnis der Band stand noch Pasi Koskinen auf der Bühne. Und Joutsen, bei dem, wie Kundige berichten, mittlerweile allerdings die Hälfte der Dreadlocks der Schere zum Opfer gefallen ist (die Häfte auf die Anzahl bezogen, nicht auf die Länge) und der mal wieder ein neues Exemplar seiner Kollektion an Vintagemikrofonen spazierenträgt, brilliert fast durchgehend, wechselt mühelos zwischen Growls und Klargesängen in fast immer superber Qualität - nur "fast immer", weil er in "Into Hiding" und "Alone" ein paar wenige Höhen kappt. Vielleicht will er seine Stimme noch etwas schonen und nicht gleich überbelasten; der Gig ist der erste der Tour und mit 90 Minuten Dauer auch nicht gerade kurz, und da ist bei einem derart anspruchsvollen Job eine gewisse Vorsicht geboten. Soundmäßig dreht der Techniker etwas lauter auf als bei Leprous, allerdings gerät das Gesamtklangbild klar genug, um die vielen feinen Melodien nachvollziehen zu können, und nur das Keyboard steht hier und da mal wieder akustisch etwas zu weit hinten. Als Überraschung geht der Sound der Snare durch - einen derart abgedunkelten Ton hört man im Metal- oder Rockbereich nur selten, aber das hilft sehr dabei, den Gesamtklang angenehm unschrill zu gestalten. Von der Setlist her konzentrieren sich die Finnen auf die Alben des neuen Jahrtausends (unter denen allerdings "Far From The Sun" ausgeblendet wird, was den überraschenden Verzicht auf den Hit "Day Of Your Beliefs" bedeutet) und spielen vor allem von den Durchbruchsalben "Tales From The Thousand Lakes" und "Elegy" erstaunlich wenig Material. Das erschwert dem Altfan ein wenig die emotionale Identifikation mit dem Gig, aber das Gros der Besucher an diesem Abend scheint nicht zu dieser Personengruppe zu gehören. Eindeutiges Signal für diese These: Bei diversen neueren Tracks jubelt die Menge schon, sobald Leadgitarre oder Keyboard das eröffnende Thema angespielt haben, selbst wenn Joutsen keine Ansage macht - als er aber "Against Widows" ankündigt, geht alles andere als ein Sturm der Begeisterung durchs Volk, obwohl der Song eines der Highlights des Bandschaffens und so auch des Sets an diesem Abend darstellt, wie dann auch der frenetische Applaus nach diesem Song deutlich macht: Die Jugend kannte ihn offenbar schlicht und einfach nicht. Gut, er ist schon von 1996, aber da wird einem wieder mal bewußt, wie lange diese Band schon im Geschäft ist und kontinuierlich zumindest gutes Qualitätsfutter abliefert, wenngleich sie sich spätestens im neuen Jahrtausend von Experimenten und Weiterentwicklung verabschiedet hat und sich nur noch auf die Kultivierung der eigenen Stärken und die umfassende Ausfüllung der eigenen Nische zwischen 70er-Rock, Folk und Metal konzentriert. Das muß nichts Schlechtes sein, ganz im Gegenteil: Der Unterhaltungswert der anderthalben Stunde stimmt, sofern man als Zuschauer ähnlich gepolt ist wie die Band, und das sind an diesem Abend offenbar die meisten Anwesenden. Und daß Esa Holopainen und seine Crew auch in jüngerer Zeit noch großartige Songs geschrieben haben, zeigen in der neuen Setlist etwa das vielschichtige "Sky Is Mine", das die vorher gespielte und weißgott nicht schlechte erste Single des aktuellen Albums "The Beginning Of Times", nämlich "You I Need", locker aussticht, oder das große Epos "Sampo", das den regulären Set beschließt und das problemlos auch auf das "Elegy"-Album gepaßt hätte, wenn dessen Grande Finale nicht schon durch den Titeltrack belegt gewesen wäre. Der wurde 2003 in Glauchau nicht gespielt und wird es auch 2011 in Jena nicht, dafür gibt's im Zugabenblock noch "My Kantele", mit seinem Wechsel aus Dreier- und Vierertakten nach wie vor stilprägend für diese Band. Es ehrt Amorphis, daß sie auch nach knapp 20 Jahren immer noch Stoff von ihrem Debütalbum "The Karelian Isthmus" spielen - an diesem Abend kommt nach dem vom Band eingespielten Albumintro "Vulgar Necrolatry", einer der ältesten Songs der Band überhaupt, den Rhythmusgitarrist Tomi Koivusaari gar noch von seiner Vorgängerband Abhorrence mitgebracht hatte. Gleich danach ist das bereits erwähnte "Into Hiding" plaziert - und man staunt nach Setende, als "House Of Sleep" die aus drei Songs bestehende Zugabe abschließt und der Soundmensch sehr zeitnah eine Eläkeläiset-Scheibe in immenser Lautstärke einwirft, um weitere Zugabeforderungen im Keim zu ersticken, daß es auch der einzige Beitrag von "Tales From The Thousand Lakes" bleibt. Im Klartext: "Black Winter Day" steht nicht im Set. Das ist einerseits eine mutige Entscheidung (man läßt sich als Künstler nicht davon beeindrucken, welche Songs der Fan gerne hören möchte - eine ähnliche Haltung kennt man ja z.B. von Hubert von Goisern, der "Koa Hiatamadl" auch nicht bei jedem Gig spielt), erzeugt aber auf der anderen Seite Enttäuschung bei den Altanhängern, die es schließlich ermöglicht haben, daß Amorphis den Status erreicht haben, den sie heute besitzen. Und wer wäre nicht zumindest ein klein wenig enttäuscht, wenn AC/DC ohne "Highway To Hell" oder Helloween ohne "Future World" die Bühne verließen? So bleibt die Erinnerung an einen gutklassigen Gig mit leichten polarisierenden Elementen.

Setlist Amorphis:
Intro
Battle For Light
My Enemy
Smoke
Against Widows
Towards And Against
You I Need
Sky Is Mine
Karelia
Vulgar Necrolatry
Into Hiding
Crack In The Stone
Alone
Sampo
---
Skyforger Intro
Silver Bride
My Kantele
House Of Sleep



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