www.Crossover-agm.de
No Silent Backlands Festival   28.-30.07.2011   Weißenfels, Schloßhof
von rls

Nachdem im Jahre 2010 aus finanziellen Gründen nur eine abgespeckte Variante des No Silent Backlands-Festivals stattfinden konnte und man gar um dessen Fortbestand bangen mußte, sah die Situation anno 2011 wieder etwas rosiger aus, und so konnte der Veranstalter, die rührige Jugendinitiative Weißenfels, diesmal wieder das übliche Dreitagesprogramm zusammenstellen. Der erste Tag gehörte in bewährter Weise der gewaltpräventiven Arbeit mit Vor- und Grundschulklassen sowie einer Filmvorführung, wobei man diesmal einen Dokumentarfilm über den Exodus von Weißenfelser Juden nach Israel zeigte; die folgende Berichterstattung widmet sich den Konzertaktivitäten am zweiten und dritten Tag im Schloßhof, zwischen die auch noch sportliche Angebote geschaltet waren. Zwar sah die Wetterprognose überwiegend düster aus, aber letztlich blieben doch beide Konzertabende niederschlagsfrei und trugen zu einer gelungenen Jubiläumsnummer des Festivals (es ist in die Reihe der Zweistelligen aufgerückt - Glückwunsch!) bei.

Der erste der Konzertabende gehörte wie immer dem mehr oder weniger regionalen Underground und wurde mit einer Stunde Verspätung von Fuzz Aldrin eröffnet, die das zu diesem Zeitpunkt noch eher spärlich anwesende Publikum eine Dreiviertelstunde lang mit Stoner Rock beschallten und damit kurioserweise schon als Opener länger spielten als fünf der sieben Bands am Folgeabend. Aber sie rechtfertigten ihren ausladenden Einsatz mit durchaus interessanter Musik, wobei sie auf Gesang völlig verzichteten. Das Gesamtbild gestaltete sich noch nicht durchgängig spannend, und hier und da wirkten einzelne Elemente etwas übermotiviert, z.B. die plötzlichen Abstoppungen im Opener. Aber gerade der als neu angesagte urlange Song (Namen sind Schall und Rauch) entpuppte sich als spannende und sauber geschichtete Stonerwalze, so daß, wenn das die Entwicklungsrichtung der Leipziger bildet, mit erfreulichen Ergebnissen gerechnet werden darf. Einige Sabbath-Gedächtnisriffs sind in diesem Stil natürlich Pflicht und fehlten somit auch bei Fuzz Aldrin nicht, und interessanterweise eröffnete das Trio den Gig mit einer Jamsession. Dank des sauberen, aber durchaus druckvollen Sounds konnte man auch die diversen Baßsoli problemlos heraushören, und der Setcloser baute nochmal eine intensive, aber transparente Klangwand auf.
Return Of The Momma hatten anno 2009 nur eine halbstündige Kostprobe ihres Schaffens gegeben, die 12 Songs an diesem Abend dauerten summiert deutlich länger und rückten das Quintett vielleicht einen Tick weiter in die Stoner-Richtung als damals, da die eher traditionell orientierten Elemente keinen weiteren Ausbau gefunden zu haben schienen. Gute Ideen hat das Quintett nach wie vor, und der Kontrast zwischen dem harten "Fever" und dem balladesk durchwirkten "Lack Of Love" bildete wie schon 2009 ein Kernstück des Sets. Auffällig waren darüber hinaus vor allem die beiden Setcloser: "Warlord" mit seinem äußerst intensiven doomigen Mittelteil und "Desert Waltz", geschickt Dreier- und Vierertakte miteinander kombinierend. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Sound auch so weit gebessert, daß man die Taktschemata in der Drumarbeit einigermaßen nachvollziehen konnte - kurioserweise war der Sound über weite Teile des Sets nämlich durchaus klar, aber mit deutlich untergebuttertem Schlagzeug, so daß der auf Metalgigs extrem seltene Fall eintrat, daß sich der Rezensent mehr Drums im Gesamtmix wünschte (normalerweise ist's ja eher andersherum). Der Sänger, optisch an Klaus Lage erinnernd, überzeugte mit einer leicht grungigen, aber vielseitigen Stimme, widmete den Gig den Opfern der Anschläge in Norwegen und hinterließ ansonsten einen redseligen bis etwas verpeilten Eindruck.
Die mal unter Boing., mal unter Boing Agrupapulci firmierende Truppe hatte der Rezensent um den Jahrtausendwechsel herum mal gesehen und für technisch stark, aber songwriterisch überambitioniert befunden, selbst im damaligen "Anything goes"-Maßstab, der aus den Neunzigern noch mit ins neue Jahrtausend herübergeschwappt war. Die aus Weißenfels stammende Band hatte im seither vergangenen Jahrzehnt nur periodisch gearbeitet und verstand den Gig an diesem Abend laut Ansage auch als den letzten in dieser Quartettbesetzung, obwohl man neben zahlreichem altem Material auch neue Songs spielte. Freilich: So richtig zu überzeugen wußte das Gebotene den Rezensenten auch mit zehn Jahren Hörabstand nicht, während zumindest drei Handvoll Die-Hard-Anhänger die Gelegenheit nutzten, die Band vor der Bühne abzufeiern. Dabei ist es nun nicht so, daß Boing. keine Ideen hätten - im Gegenteil, da befindet sich eine größere Anzahl guter Einfälle im Material, das aber durch abstruse Kombinationen eine wohl ungewollte ironische Brechung erfährt und keinen Raum zur Entfaltung bekommt. Wenn aus einer emotionalen Halbballade unvermittelt Reggae mit einer völlig anderen Stimmung entsteht, fragt man sich schon irgendwie verzweifelt nach dem Warum, und solche bemüht wirkenden Konstruktionen finden sich im Schaffen der Band reichlich, was zu einer kuriosen Mischung aus Absurdität und (aus heutiger Sicht) Anachronismus führt. Immerhin haben Boing. erstklassige Musiker in ihren Reihen, die auch die nötige Bühnenroutine mitbringen: Als dem Gitarristen drei Minuten vor Mitternacht eine Saite reißt, legen der Bassist, der Drummer und der in diesem Fall an den Bongos agierende Sänger spontan eine dreiminütige Jamsession ein, bis exakt mit den Zwölferglockenschlägen vom Uhrenturm des Schlosses die Gitarre wieder einsatzbereit ist. Und den Gesang kann man wahlweise als anstrengend oder energiegeladen apostrophieren, wobei sich der Sänger als Bühnenaktivposten präsentierte und viel für die gute Stimmung vor der Bühne tat. Dennoch zog sich der Gig in die Länge wie Kaugummi und ließ bei neutralstmöglicher Betrachtung nur ein Fazit zu: For fans only!

Als der Rezensent um 18.45 Uhr am Folgetag den Schloßhof betrat, mühte sich der Opener E620 bereits ab, die Besucher zu begeistern, was allerdings nur in Grenzen gelang, von drei Die-Hard-Anhängern vor der Bühne abgesehen. Dabei war das junge Quintett so schlecht nicht, und man konnte es durchaus mögen, wenn man denn eine Affinität zu grindlastigem Hardcore mit gelegentlichen melodischen Anflügen hegt. Allerdings hinterließen einige der überwiegend sehr kurzen Stücke einen noch zu fragmentarischen Eindruck; etwas mehr Mut zum Ausbau der durchaus vorhandenen guten Ideen, zu denen auch die Anflüge von Gitarrensoli gehören, wäre der Band durchaus zu wünschen, und auch der Sänger darf seine leichten melodischen Anflüge im sonst vorherrschenden Brüllkreischmix gern noch stärker kultivieren. Etwas ausgebremst wurde die Band an diesem Abend allerdings durch den Sound, der Baß und Drums weit in den Vordergrund stellte, während die Rhythmusgitarre weitgehend unhörbar blieb, was besonders in den Leads deutlich wurde. Gemäß der Songtitel textet die Band übrigens in Deutsch, was freilich kaum zu verstehen war; auch an der Vielfalt des Schlagzeugspiels darf gern noch gearbeitet werden. Kein schlechter Einstand, aber ausbaunötig.
Walking Dead On Broadway brauchten für sechs Songs plus kurzes Intro immerhin 25 Minuten - ein Beleg, daß sie ihren Metalcore ein wenig ausladender inszenieren als viele Genrekollegen, ohne deshalb gleich Epicmetal-Längen zu erreichen. Das Intro bestand u.a. aus Regengeräuschen, was angesichts der unsicheren Wetterlage einen hinter dem Rezensenten stehenden Witzbold zur Aufforderung "Stell das Wasser aus!" animierte. Musikstilistisch hatten Walking Dead On Broadway dem Genre wenig hinzuzufügen, allerdings spielten sie ihren Stiefel solide herunter, und man hätte zur intensiveren Analyse gern noch etwas mehr Gitarre im Gesamtmix gehabt, der dafür deutlich zu doublebasslastig war. Sowohl im neuen "My Rebirth" als auch im Setcloser schaltete das Quintett teils in finsteren Doomdeath herunter, was eindrucksvolle Wirkungen hinterließ, während auch ansonsten Bands wie Bolt Thrower den einen oder anderen Einflußspritzer hinterlassen haben dürften. Die Synchronkniebeugen der vier Frontleute dagegen erinnerten irgendwie an die Zeiten des Accept-Bühnenballetts, und der Sänger erschien zwar im Karohemd, legte aber trotzdem völlig ungrungiges Gebrüll mit einigen Kreischeinlagen an den Tag. So richtig knacken konnte das Quintett das Auditorium aber trotzdem nicht.
Das schafften auch Nesaia nicht, die im Vorjahr schon mal an gleicher Stelle gespielt und Kollegin Josephine ohne Abstriche überzeugt hatten. Problem: Der Originalitätsfaktor der Naumburger ist das Keyboard, und genau das war im Soundmix nur an einigen Stellen zu hören. Die reichten zwar, um eine Vielfalt zwischen Piano, Orgelprinzipal und fiesem 90er-Dancefloorgezischel zu diagnostizieren, aber die Einbindung in die Gesamtkomposition blieb so über weite Strecken schleierhaft, und ohne das Keyboard blieb eben nur Standardmetalcore der nicht zu verbreakten und durch diverse ekstatische Gitarrensoli angenehm traditionsmetallastigen Sorte übrig. Immerhin konnte man die Gesangsvielfalt eindrucksvoll mitverfolgen - der leicht übermotiviert wirkende Leadsänger hat schon ein ansehnliches Spektrum des Extrembereiches in der Kehle, der Gitarrist sang Backings und der Drummer gelegentliche Cleanvocals. Die Reaktionen aus dem Publikum hielten sich allerdings in Grenzen, und aufgrund der nur halben Stunde Spielzeit verzichteten Nesaia auch auf ihr Coverprogramm, das sie 2010 noch bedient hatten - der alte DJ-BoBo-Dancefloorheuler "Somebody Dance With Me" erklang nur als Fragment beim Soundcheck. Eine Band, die man gerne nochmal bei anderen Soundverhältnissen hören möchte.
Mit Death Before Dishonor betraten die ersten internationalen Vertreter die Bretter und erreichten, daß sich der imaginäre Kreis des Publikums vor der Bühne ein gutes Stück auf diese zu bewegte, was den Rahmen für ein paar kleine Circlepits ergab. Trotzdem hielten sich die Reaktionen des Publikums überraschenderweise in Grenzen, und speziell die jüngere Generation scheint weitgehend vergessen zu haben, daß man sein Wohlwollen auf Konzerten mit Applaus auszudrücken pflegt. Der Sänger gab seine Animationsversuche irgendwann auf und zog sich auf eine knappe Moderation des Gigs zurück, der aus klassischem 90er-New School-Hardcore bestand, also aus der Phase, in der immer mehr Hardcorebands begannen, Slayer-Riffs in ihre Stücke einzubauen. Das taten Death Before Dishonor auch - schön nachzuhören in "Never Again". Dem Energietransport von der Bühne schadete das erwartungsgemäß nicht, zumal auch das Soundgewand etwas klarer war und nur die Backing Vocals bisweilen ins Abseits stellte, wobei allerdings im Songmaterial auch nicht viele Feinheiten enthalten sind, die hätten verlorengehen können. So richtig originell und eigenständig ist das Material des Quartetts sicher nicht, obwohl sich schon interessante Songs wie das schleppend beginnende und später in einen Brecher umschlagende "Redemption" im Set befanden. Die mit Abstand besten Reaktionen aus dem Publikum erntete allerdings der Setcloser, die Adaption eines alten Gassenhauers von Cock Sparrer, hier in der Fassung "Boston Belongs To Me", zu der sich der Sänger in die Absperrung vor der Bühne begab und einige Fans mitsingen ließ, die sich wie in einer Traube um diese Möglichkeit drängten.
Der Mathcore von War From A Harlots Mouth verkörpert mit seinem Versuch, die ganze musikalische Welt in zwei Minuten zu erklären, eigentlich alles, was viele Anhänger des Old School und auch des New School Hardcore an der jetztzeitlichen Definition von Hardcore nicht mögen. Der Rezensent hatte als Umbaupausenlektüre "Das neue Wandern" von Manuel Andrack einstecken und fand genau in der Pause vor dem WFAHM-Gig einen klassischen Satz (S. 87): "Wenn eine Schießerei, eine Autoverfolgungsjagd und eine Sexszene im Kino gleich hintereinander kommen, wird man ja auch schnell müde." Von daher war man nach einer knappen Dreiviertelstunde um zwei Dinge schlauer. Erstens: Gemessen an den Publikumsreaktionen waren sehr viele Anhänger der jetztzeitlichen Definition von Hardcore im Schloßhof anwesend. Zweitens: Wenn ein klar durchhörbares Soundbild vorliegt, kann auch die Analyse von Mathcore live immensen Spaß machen, selbst wenn der rote Faden teilweise ähnlich zerschnippelt war wie der bei Boing. einen Abend zuvor. Die atmosphärischen Interludien riefen Erinnerungen an alte Meshuggah-Großtaten ins Hirn, die Ideen und ihre Entwicklung konnte man eben dank des klaren Soundgewandes bestens nachvollziehen, und daß da brillante Techniker am Werke waren, steigerte den Hörgenuß beim Nur-Analysieren nochmals. Freilich: Wenn der Sänger das Publikum offensichtlich ohne Ironie zum Hüpfen auffordert, obwohl die krummen Takte des folgenden Tracks zu allem anderen, nur nicht zum Hüpfen einladen, darf man das zumindest komisch finden, und auch die stumpfe Aufforderung zur Gewalt gegen Faschos paßte irgendwie nicht zur intelligenten Musik. (Das hatte einer der Bühnenvorgänger origineller gelöst: "Wenn ihr Faschos auf einem Hardcore-Konzert seht, schmeißt sie raus. Was ihr dann draußen mit ihnen macht, müßt ihr selber wissen.") Aber im Gesamtbild stellte sich der Titel von Song 2 "Hey, Let's Start A Band", den man aus unterschiedlichen Gründen selbstironisch auf zahlreiche junge Bands anwenden muß, hier als ungültig heraus.
Born From Pain hatten vor etlichen Jahren schon einmal in Weißenfels gespielt und hielten nun ein weiteres Mal die Fahne des newschoollastigen Benelux-Hardcore hoch, wobei sie auf eine Lichtshow verzichteten und statt dessen eine Endlosschleife mit Schwarzweißbildern von Straßenkampfszenen an die Bühnenrückwand warfen. Apropos endlos: Die Ansagen des Sängers, übrigens in nahezu perfektem Deutsch, konnte man ebenfalls mit diesem Attribut belegen, wobei auch er die Fruchtlosigkeit von Animationsversuchen bald einsah (allerdings war die Grundaktivität des Publikums bei Born From Pain viel höher als die bei Death Before Dishonor) und sich auf inhaltliche Betrachtungen der Gesellschaft, der Welt und anderer Problemfälle konzentrierte, die sich in dem alten Luther-Slogan "Und wenn ich wüßte, daß morgen die Welt unterginge, so wollte ich doch heute noch mein Apfelbäumchen pflanzen" zusammenfassen ließe. Musik gab's in dieser Dreiviertelstunde natürlich auch noch, mal speedig wie in "State Of Mind", mal groovig wie im umjubelten "This Is The New Hate". Probleme bereitete wieder mal der Sound, denn obwohl ein Instrument weniger abzumischen war als bei WFAHM, gelang die Herstellung eines ausgewogenen Klangbildes nicht, was im wesentlichen am Baß lag. Das Phänomen, daß dieser keinerlei Klangbeziehung zu Gitarre und Schlagzeug aufbauen kann, sondern mehr oder weniger unbeteiligt von unten her alles zuwummert, tritt ja durchaus ab und zu mal auf, zuletzt beispielsweise beim Grave Digger-Gig im April 2011 in Glauchau, und so war's auch an diesem Abend, was freilich gute Teile des Publikums nicht störte, die Born From Pain wie einen Headliner abfeierten, was diese ja auch waren.
Die Aftershowshow, also den Job, die Leute nach Hause zu treiben, übernahmen diesmal Los Ramoneros Viven, bei denen es sich, wie der Name schon vermuten läßt, um eine Ramones-Coverband handelt. Die Soundanlage war deutlich heruntergefahren worden, was ein überwiegend klares, aber wenig druckvolles Klangbild ergab, so daß im Verbund mit einer eher statischen Performance und dem seltsam distanziert wirkenden Gesang ein eigentümlicher valiumartiger Eindruck entstand, der auch tatsächlich gute Teile der Anwesenden irgendwann nach Hause getrieben hatte. Der Rest ließ sich davon nicht stören, schwang zu Klassikern wie "Rock'n'Roll High School" oder "Pet Semetary" das Tanzbein und sang "Blitzkrieg Bop" oder "Sheena Is A Punk Rocker" fleißig mit. Das Quartett hatte übrigens mit dem Sänger, dem Bassisten und dem Drummer drei Langhaarige mehr am Start als alle anderen Bands des Tages zusammen, wobei der Sänger auch noch aussah wie Ozzy Osbourne und der Bassist, der im Nebenjob noch für die "One, two, three, four"-Slogans zuständig war, wie Axel Rudi Pell. Der reguläre Set endete mit dem Motörhead-Cover "R.A.M.O.N.E.S.", und da einige Enthusiasten keine Ruhe gaben, wurde "Blitzkrieg Bop" als Zugabe noch ein zweites Mal gespielt, bevor die Geisterstunde und mit ihr auch die Jubiläumsausgabe des Festivals endete. Nächstes Jahr wieder? Gerne - www.jugend-wsf.de verrät zu gegebener Zeit den Termin.



www.Crossover-agm.de
© by CrossOver