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ReihEins: China   04.06.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Mit der achtteiligen Konzertserie "ReihEins" hatte das MDR Sinfonieorchester in der Spielzeit 2010/2011 unterschiedliche musikalische Landschaften der Welt erkundet und die Konzerte jeweils noch mit einem kulturellen Rahmenprogramm gekoppelt. Die Reaktion des Publikums ist gemischt: Derartigen Experimenten steht nicht jeder aufgeschlossen gegenüber, und im Gegensatz zu Zeiten Herbert Kegels, der mit seinen modernen Programmen nach jahrelanger "Erziehungsarbeit" des Publikums trotzdem vor vollen Sälen spielte, müssen heute kleinere Brötchen gebacken werden: Das Volk frißt auch an diesem Abend, dem letzten der Serie, an dem China auf dem Programm steht, wieder mal nicht, was es nicht kennt, und so bleibt der Füllstand des Gewandhauses äußerst übersichtlich. (Als kleiner Witz am Rande sei der DDR-Liedermacher Reinhold Andert zitiert, der zur Zeit der akuten Verstimmung zwischen Moskau und Peking in seinem Lied "Blumen für die Hausgemeinschaft" folgende Verse schrieb und sie erstaunlicherweise auch durch die Zensur brachte: "Und über mir ist auch kein Licht, da wohnt Herr Hasenpost./Der fährt jetzt dreimal wöchentlich zur Volkshochschule Ost./Dort lernt er, hat er mir erzählt, Chinesisch nebenbei./Ich hörte schon des öfteren, daß er so ängstlich sei ...")
Die erste Hälfte des Programms hätte allerdings auch das treue Kegel-Publikum in Unruhe versetzt. Zunächst erklingt "Wu Xing" von Qigang Chen, ein Stück über die fünf Elemente der klassischen chinesischen Weltanschauung, und dementsprechend ist das Werk in fünf überwiegend kurze Sätze gegliedert, von denen jeder ein Element behandelt. Ohne das Wissen darum könnte man dieses Konzept kaum entschlüsseln, wenngleich es mit dem entsprechenden Wissen durchaus nachvollziehbar erscheint. Das Wasser fließt ruhig, und einige Geräusche aus Holz und Schlagzeug könnten Geblubber symbolisiert haben. Der Holz-Satz indes klingt eher wie ein Ameisenhaufen, über dem dann später Vögel singen, bevor das Blech und die Tiefstreicher ihren Nistbaum fällen. Das Feuer muß erst mühevoll erzeugt werden, und Dirigent Lan Shui wendet eine interessante Einzelschlagtechnik beim Funkenerzeugen an, während später die große Trommel per Frequenzschwingung wohl ungeplant ein anderes der vielen Schlaginstrumente mit anregt. Die Erde ist dann mehr durch die Wasseradern geprägt, die dann bei Bratschen und Flöten Wachstum erzeugen; der Satzschluß besticht durch spannende Schichtungsarbeiten im pp-Bereich. Vom abschließenden Metall-Satz freilich hätte man sich wohl etwas anderes erwartet als eher matten Glanz mit ein bißchen stählerner Härte; es muß ja nicht gleich in Heavy Metal umschlagen (wenngleich es solchen in China auch gibt - höre sich z.B. Spring Autumn an, wer's nicht glaubt), aber irgendwie läßt einen das Gehörte etwas unbefriedigt zurück.
Dirigent Lan Shui
Tan Duns "Orchestral Theatre I: 'O'" folgt dann einem anderen Konzept: Westliche Instrumente spielen asiatische Skalen. Das liest sich erstmal interessanter, als es in den ersten zwei Dritteln der etwa 20minütigen Spielzeit dann tatsächlich ist, denn die bestehen tatsächlich nur aus einer Aneinanderreihung von Etüden und mehr oder weniger absonderlichen Einfällen, was den Geräuschemacher beim Fernsehen mehr interessieren dürfte als den Hörer in der Konzertsituation. Der Tubist etwa muß bisweilen Töne erzeugen, indem er an sein Mundstück schlägt, mancherlei Holzeinwürfe klingen akut nach Katzenmusik, und die Ernsthaftigkeit der diversen Shouts, die die Musiker einzuwerfen haben, liegt in der Nähe von J.B.O.-Chören. Völlig überraschend nimmt das Stück nach zwei Dritteln aber eine Wende, und danach gelingt Tan Dun wirklich eine Verschmelzung westlicher und östlicher Elemente der Musik: Die vier Schlagzeuger legen einen geradlinigen Rhythmus vor, den die Streicher in der Manier einer Rockband aufnehmen, ein großer wilder Ausbruch erinnert an das Finale eines Metalkonzertes, wenn alle nochmal wie wild auf ihren Instrumenten solieren, und die letzten Minuten gehören einem sehr spannenden Ausklang wiederum im pp-Bereich, zunächst von Solovioline und Kontrabaß, später von Piccoloflöte und Kontrabaß umgesetzt und noch durch einzelne Glockenschläge unterstützt. Den Gesamteindruck rettet das allerdings nicht, denn ...
... nach der Pause haben sich die Reihen nochmal gelichtet. Dabei folgt gerade jetzt das für westliche und nicht der experimentellen Moderne zugeneigte Ohren nachvollziehbarste Stück des Programms, nämlich das Violinkonzert "The Butterfly Lovers" von Chen Gang und He Zhanhao - kein Neuling im Gewandhaus, sondern dreieinhalb Jahre zuvor schon mal vom Akademischen Orchester Nanjing gespielt, allerdings nicht im Großen, sondern im Mendelssohn-Saal. Klar: Wenn man nicht gerade frisch verliebt ist, könnte man dazu neigen, das Stück als riesengroßen Kitsch abzuqualifizieren, aber umgekehrt wird natürlich auch ein Schuh draus, und man kann es auch einfach nur schööön finden. Und die technische Beherrschung des Stoffes, sowohl kompositorisch als auch an diesem Abend spielerisch, darf man selbstverständlich nicht verkennen, wenngleich die grundlegenden Unterschiede in der Spielauffassung der Solistin Tianwa Yang und ihrem aus den Reihen des Orchesters zugeteilten Dialogpartner an einigen Stellen doch recht deutlich zutagetreten. Aber die perlende Kadenz über einigen p-Tupfern entschädigt auch den nicht frisch verliebten Zuhörer für solche kleinen Problemfälle reichlich, und für das große, äußerst plastisch gespielte "Streitgespräch" zwischen Yang und dem Orchester kann man sich ebenfalls begeistern. Die wenigen Orchesterausbrüche bleiben von der Intensität her zwar übersichtlich, aber dafür gelingt ein wahrlich tränentreibender Schlußteil, wenn die beiden verhinderten Liebenden schließlich im Grabe vereinigt sind und als Schmetterlinge wieder auferstehen. Das überzeugt auch das Publikum, und so erklatscht es sich von der in leuchtendes Orange gehüllten Solistin noch eine Zugabe: Eugene Ysayes "Ballade" aus der Violinsonate op. 27, ein für diesen Zweck recht langes, aber dank seines frenetischen Schlusses durchaus wirkungsvolles Stück.
Tianwa Yang und das MDR Sinfonieorchester  Tianwa Yang
Eigentlich wäre das der perfekte Abschluß für das Konzert gewesen, aber die Programmplanungsfraktion hat noch ein Stück eines Nicht-Chinesen dazugesetzt, wenngleich mit ansatzweise chinesischer Thematik: "Der wunderbare Mandarin" von Béla Bartók, hier in Form einer Suite ohne Tanz, aber mit eingeblendeten scherenschnittartigen Illustrationen des Geschehens als PowerPoint-Projektion auf einem großen Schirm vor der Orgel. Die ist spielerisch sogar besetzt, aber Felix Friedrich hat trotzdem so gut wie nichts zu tun und ist bei seinen Einsätzen noch nicht mal zu hören, wenn etwa gleich in der Eingangsszene das Orchester die Handlungsanweisung "Es herrscht ein Höllenlärm" wortgetreu umsetzt und damit die durchaus nicht leise Gewandhausorgel komplett übertönt. Auch weitere Handlungselemente erhalten eine recht plastische Umsetzung, andere hingegen verfallen ins Gegenteil, etwa wenn der weibliche Lockvogel des Stückes für seine Opfer tanzt, Bartók das aber mit ganz und gar untanzbarer Musik hinterlegt hat. Das paßt zum Expressionismus der 20er Jahre (und führte übrigens in seinem avantgardistischen Gesamteindruck dazu, daß Konrad Adenauer, damals Oberbürgermeister von Köln, das Stück nach der Premiere absetzen ließ), wenngleich andere Passagen wiederum fast konventionell ausgestaltet sind, etwa die wilde Jagd. Trotzdem oder gerade deshalb steht man diesem Stück irgendwie hilflos gegenüber, zumal die Figur des Mandarin auch problemlos durch einen Unsterblichen einer beliebigen anderen Mythologie hätte ersetzt werden können. Das verbliebene Publikum applaudiert trotzdem mehr als freundlich, wenngleich ein gewisser Unterton "Endlich vorbei" angesichts des fordernden Programmes mit eingeflossen sein dürfte.

Fotos: Christiane Höhne (www.chfotodesign.de)



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