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Musik im "Reich der Mitte"   11.10.2007   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Nebenan im Großen Saal des Gewandhauses dirigiert Shootingstar Gustavo Dudamel das Gewandhausorchester mit einem nicht uninteressanten Programm - trotzdem ist auch der benachbarte Mendelssohnsaal des Gewandhauses bis auf ein paar Restplätze gefüllt, als das Sinfonieorchester der Universität Nanjing die Bühne betritt. Erst 2000 gegründet und keineswegs ein Musikstudentenorchester, sondern zum überwiegenden Teil aus jungen Menschen bestehend, die sonst Maschinenbau, Informatik oder ähnliche Fächer studieren, hat sich die Formation bereits einen ansehnlichen Ruf erspielt, war 2004 schon einmal auf Europatour und bringt nun, verstärkt durch einige Mitglieder des Akademischen Orchesters Leipzig, ein gemischtes chinesisch-mitteleuropäisches Programm auf die Bühne. Der chinesische Teil bildet dabei den Auftakt und besteht aus drei Werken, die allesamt irgendwie romantisch anmutende Titel besitzen. Li Huan-zhis "Ouvertüre zum Frühlings-Festival", eine der populärsten Kompositionen zu diesem Anlaß in China (der dem Neujahrsfest entspricht), verarbeitet neben chinesischen allerdings auch einige andere Einflüsse - so hört sich gleich das Intro fast ein bißchen wienerisch, fast kaffeehausmäßig an, macht dann aber einer quicklebendigen asiatischen Fröhlichkeit Platz, was ja auch mit dem Anlaß der Komposition korrespondiert. Die beide für sich etwas schräg klingenden Streicher und Bläser erzeugen im Zusammenklang dabei diesen typischen asiatischen Harmoniegestus, den man in trivialisierter Weise auch als Hintergrundmusik im nächstbesten Asiarestaurant hört. Das kann man mögen oder nicht, interessant ist es auf alle Fälle, und das schöne Oboensolo sollte auch das mitteleuropäisch fixierte Ohr für die sonst höhere Anstrengung entschädigt haben. Die Hörner und die Finaltrompete tönen allerdings wirklich arg schief, wobei letztgenannte von der unbändigen Marschpower des Finales in den bedeutungsschwangeren Schatten gestellt wird. Ein Werk, dem man durchaus öfter begegnen möchte.
Dieses Bedürfnis hält sich bei "Der Mond spiegelt sich im Erquan-See" von Hua Yanjun in deutlich ausgeprägteren Grenzen, aber das ist stilistisch bedingt, denn der Komponist verarbeitet hier seine Emotionen, nachdem er mit 35 Jahren infolge einer nicht rechtzeitig behandelten Krankheit erblindet war, und so entsteht quasi eine permanente Elegie für Streichorchester, die den Hörer nächtens mit einem Stein um den Hals in den Erquan-See zu stürzen droht und in puncto Trostlosigkeit selbst 90% aller heutigen Gothicbands wie fröhlichen Funpunk wirken läßt. Dazu kommt auch hier wieder der schräge Violinton, der Zupfteil im Intro und etliche der späteren Breaks überzeugen nicht gerade durch Paßgenauigkeit, und irgendwann erlahmt die Aufmerksamkeit des Hörers, er läßt den Rest der Komposition mehr oder weniger willenlos über sich ergehen, was vom Komponisten durchaus beabsichtigt gewesen sein könnte. Hörspaß macht das wie beschrieben natürlich nicht, aber als interessante Erfahrung, die man nicht unbedingt wiederholt bekommen muß, geht auch dieses Stück durch.
Da freut man sich anschließend über das Violinkonzert "The Butterfly Lovers" von Chen Gang und He Zhanhao, in China eines der populärsten Musikwerke überhaupt und storytechnisch auf der chinesischen Version von "Romeo und Julia" beruhend, die sich in zwei Punkten von der europäischen unterscheidet, einem entscheidenden und einem nicht ganz so wichtigen. Letztgenannter manifestiert sich darin, daß die beiden Liebenden aufgrund gesellschaftlicher Schranken nicht zueinander kommen dürfen (die familiäre Situation also eine sekundäre Rolle spielt), erstgenannter aber besagt, daß sich Liang Shanbo und Zhu Yingtai zum Schluß tatsächlich finden, nachdem sie in Schmetterlinge verwandelt worden sind. Soll heißen: Wir haben hier keine Finaltragödie vor uns, sondern ein Happy End, und das hat natürlich Auswirkungen auf die gesamte Komposition, bei der man den Ausgang irgendwie schon von vornherein ahnt, so cheesy (dieses passende Wort fand die Begleiterin des Rezensenten) kommen viele Parts des Werkes rüber, wenngleich Blech und Pauken in den powervollen gefahrdräuenden Passagen durchaus kompetent wüten. Insgesamt entsteht ein sehr cineastisches Bild, das auch wieder ein paar europäische Tupfer eingewoben bekommen hat. So vermutet man gleich im Intro, jetzt würde die "Also sprach Zarathustra"-Tonfolge weitergehen, und auch das Traditional "Auld Lang Syne" schimmert akkordseitig später mehrmals durch. Dagegen unterscheidet sich der Tonfall der Solovioline, kompetent gespielt von der mit ihrem signalroten Kleid Chris-de-Burgh-kompatiblen Guyue Dang (im Hauptberuf übrigens Informatiklehrerin), deutlich von europäischen Vorbildern, ist sehr scharf ausgeprägt, verzichtet auf allzu flächiges Geschrammel, blebt auch harmonisch natürlich dem asiatischen Gestus verhaftet - und dann gibt es ja noch einige wundervolle Dialoge der Solovioline mit dem Klavier, das perlende Einwürfe dazugibt, die an romantischem Schmelz kaum noch zu überbieten sind. Zwar läßt auch in diesem Werk das orchesterinterne Zusammenspiel nicht selten Reserven offen, und manche kompositorische Idee wünschte man sich noch etwas weiter gedacht (man stelle sich etwa mal vor, was Anton Bruckner oder gar Gustav Mahler aus den triumphalen Passagen kurz vor Schluß gemacht hätten), aber einfach nur noch schöne Passagen wie das einleitende Flötensolo über Streicherflirren oder die coolen Percussionparts lassen auch über den Wunsch hinwegsehen, der Schlußton wäre schon einen Akkord vorverlegt und der tatsächliche Schlußakkord mit dem fürchterlich quietschenden Violinenstrich schlicht und einfach gestrichen worden. Das hätte einen zauberhaften Abschluß gegeben.
Nach der Pause hieven die Chinesen samt dem grauhaarigen Dirigenten Lü Xiaoyi Mendelssohns Vierte Sinfonie, die Italienische, aufs Pult. Das hatte ein japanisches Studentenorchester fast genau ein Jahr zuvor in der Leipziger Musikhochschule auch schon getan und eine solide, fast "deutsche" Interpretation hingelegt. Darum bemühen sich auch die Chinesen, aber sie scheitern, wenn auch auf für ein Amateurorchester durchaus hohem Niveau. Letztgenanntes manifestiert sich vor allem in den Streichern, die hier ihren asiatischen Ton ablegen, wohingegen die Bläser weiterhin der Schwachpunkt des Abends bleiben, sich zwar hörbar Mühe geben, aber ergebnisseitig noch nicht alle Früchte dieser Mühe zu ernten in der Lage sind. Einige allerdings pflücken sie durchaus - so schleppt sich etwa das Flötenthema im zweiten Satz ein wenig zu behäbig durch die Toskana, aber dafür ist es einfach nur schön. Und überraschenderweise bringt das Orchester es fertig, den Beginn des zweiten Satzes dann doch fast asiatisch klingen zu lassen, ohne daß es stört. Mendelssohn ein verkappter Chinese? Wer weiß. Der Hornchoral im dritten Satz läßt mit seinem Ton jedenfalls wenig, mit seinem rabiaten Abbruch aber noch einige Steigerungsmöglichkeiten offen. Und zum Meisterstück des Orchesters gerät der energisch-zupackende vierte Satz, in dem sich selbst das Blech fast durchgängig fängt und der in all seinen Momenten durch Größe besticht, auch wenn das Holz mit dem flirrenden Finale wiederum eher kammermusikalische Qualitäten in die Waagschale wirft. Diese starke Leistung überdeckt viel von den vorausgegangenen Schwächen ("Der Wille war da", meint mein Nebenmann konstatierend), und so packt die Truppe noch zwei Zugaben aus. Man beginnt mit Brahms' Ungarischem Tanz Nr. 5, den man in einer sehr stark zergliederten, aber wenig groovenden Version intoniert (einer der Kontrabassisten löst mit seinem Ignorieren einer der Generalpausen Heiterkeit im Publikum aus), die trotzdem Hörspaß macht und einen originell aufgebauten Schluß besitzt, indem der letzte Ton erst gespielt wird, nachdem das Publikum schon in die vorher eingeschaltete ausgedehnte Generalpause hinein zu applaudieren begonnen hat. Dem Faß den Boden schlägt allerdings die zweite Zugabe aus, eine derart schauring-schräge Version des Radetzkymarsches, daß sie schon fast wieder komödiantische Qualitäten besitzt - ob dies so beabsichtigt war, muß offenbleiben. Der Dirigent läßt das Orchester zumindest den Rahmenpart alleine spielen und fordert statt dessen das Publikum in bester Rockbandfrontmannmanier zum Mitklatschen auf, und irgendwie besitzt diese Version einen leicht alkoholisiert wirkenden Gestus, den man dem Werk - Hicks - so noch gar nicht innewohnen gesehen hatte. Damit - Hicks - endet ein nicht uninteressantes - Hicks - Programm und läßt das Publikum - Hicks - zufrieden in - Hicks - die - Hicks - nächste Bar entschwinden - Hicks - "§$$%$%/&%°°°°°°°°°°°°°°°° °° °.



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