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Internationales Mahler Festival Leipzig: 8. Sinfonie (Gewandhausorchester Leipzig)   26.05.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Mahlers Achte wird gern mit dem Beinamen "Sinfonie der Tausend" spostrophiert, weil an der Uraufführung 1910 in München mehr als 1000 Instrumentalisten und Sänger beteiligt waren. Aufgrund des immensen personellen Aufwandes spielt man diese Sinfonie meist nur zu besonderen festlichen Anlässen, selbst wenn kaum jemand heute noch 1000 Mitwirkende dafür aufbietet. Auch die drei Leipziger Konzerte werden so zur "Sinfonie der 414", wobei die Reduzierung im wesentlichen die Chorstimmen betrifft, was man sich in der bekanntermaßen exzellenten Akustik des Gewandhauses eher leisten können dürfte als in der Messehalle, in der die Uraufführung stattfand. Die auch nach Vermelden des "Ausverkauft"-Status ungebrochen hohe Ticketnachfrage führt dazu, daß sogar die Generalprobe am Vortag in eine öffentliche Probe umgewandelt wird und sich eine große Erwartungshaltung breitmacht; der Rezensent erlebt mit ebenjener Erwartungshaltung das erste der drei regulären Konzerte - und wird enttäuscht.
Dabei scheint am Anfang die Welt noch in Ordnung, kann man sogar die Erwartung hegen, hier vielleicht eine ähnliche Transparenz-Meisterleistung geboten zu bekommen wie vier Tage zuvor vom London Symphony Orchestra: Der Introbombast bleibt ziemlich durchhörbar, was auch bei "nur" 413 Musikern (der 414. ist Dirigent Riccardo Chailly) immer noch eine immens schwierige Aufgabe ist. Aber ein etwas analytischerer Zugang erkennt schon hier, daß der Energietransport trotz hoher Lautstärke zu wünschen übrig läßt. Das soll erstmal nicht zum Problem werden - aber dann kommen die hier noch sieben Gesangssolisten zum Zuge und veranstalten in ihrer ersten gemeinsamen Passage eine Art olympischen Wettkampf, den Tenor Stephen Gould mit deutlichem Vorsprung vor Sopranistin Erika Sunnegardh gewinnt. Es dauert lange, bis in den Sologesangspassagen wenigstens eine Andeutung von Gemeinschaftsarbeit entsteht, und selbst dann dominiert Gould, sofern er beteiligt ist, das Geschehen immer noch viel zu sehr, den Rezensenten die "Tenorkrankheit" vermuten lassend (keine drei Wochen zuvor gab es einen ähnlichen Problemfall im Leipziger "Freischütz"). Solche Problemfälle können die exzellenten Chöre (ein Konglomerat aus allem, was in Leipzig Rang und Namen hat: GewandhausChor, GewandhausKinderchor, Thomanerchor, MDR Rundfunkchor und Opernchor) nicht kompensieren, auch die seltenen Instrumentalpassagen reißen trotz einiger starker Einzelleistungen (was für eine Sinistrität nach dem ersten Gesangsseptett!) das Ruder nicht herum, und der Bombast, der gegen Ende des ersten Satzes die Oberhand gewinnt, geht zwar lautstärketechnisch wieder mal an Grenzen, aber er packt den Hörer nicht, wie das noch in der Zweiten eine reichliche Woche zuvor gelungen war: Man sitzt irgendwie völlig unbeteiligt auf seinem Sitz, und der Schall durchdringt einen, ohne etwas mit einem anzustellen, ohne etwas in einem auszulösen. So bleibt nur ein Registrieren der Klangmassenbeherrschung durch den Dirigenten, nicht mehr, aber zumindest auch nicht weniger.
Wird der zweite Satz besser, aufregender, spannender? Eine knappe Stunde später ist man schlauer: Leider nein. Dabei beginnt er vielversprechend: Im entrückt wirkenden instrumentalen Intro kommt erstmals so etwas wie Spannung auf, die Entwicklung wirkt fast cineastisch, also bildkräftig, und der Chor verdient sich für die brillant gesungenen Echowirkungen in seinem ersten Einsatz ein Sonderlob. Aber leider wird diese Linie nicht fortgesetzt: Es gelingt Chailly nicht, in diesen gesamten riesenhaften Satz irgendwas Ähnliches wie einen Spannungsbogen hineinzubekommen - alles bleibt Stückwerk, wenn auch zum Teil wirklich gutes. Aber es wird keine Entwicklung deutlich, der Schlußbombast wirkt wie angeklebt, auch hier gibt es wieder dieses Phänomen, daß der Bombast einen zwar erreicht, aber nicht ins Innere dringt, und von dieser nervenzerfetzenden Spannung, die man in der Zweiten wenigstens im letzten Satz noch serviert bekommen hatte, träumt man hier leider nur. Dazu gesellen sich offenkundige Schwächen bei einigen Solisten, die allerdings allesamt keine Bäume ausreißen. Aber wie Christiane Oelze oben auf der Orgelempore an den gesanglichen Höhen scheitert, das ist schmerzlich anzuhören, und Tenor Stephen Gould muß noch ein weiteres Mal erwähnt werden: Wenn er als Doktor Marianus "Plötzlich mildert sich die Glut/Wie du uns befriedest" singt, wird urplötzlich deutlich, wie zurückgenommen (und dennoch klar durchhörbar, so daß man sogar die kleine Textabweichung von ihm zur Variante im Booklet bemerkt), wie geschickt gestaltend er agieren kann; er hätte es also eigentlich nicht nötig, ausschließlich auf Kraft zu setzen, wie er das leider fast die gesamte restliche Einsatzzeit in großer Variationsmonotonie tut. Da reißen die einzelnen Glanzmomente, hübsch auf die acht Sänger verteilt, unterm Strich nicht mehr viel heraus, zumal auch die Gesamtbalance oftmals nicht stimmt: Wenn man auf akustisch eigentlich idealen Plätzen die Kinderchöre nur dann hört, wenn sie nahezu im Alleingang agieren, dann läuft offensichtlich generell mit der Klangbalance etwas schief. Chailly versucht zwar im Schlußteil (also dem angeklebten Bombastpart) noch zu retten, was zu retten ist, bekommt wenigstens ein bißchen Spannung in das letzte retardierende Element hinein, aber der Bombast selbst bleibt wieder kalt, distanziert, den Hörer wie einen körperlosen Geist durchdringend. Gespannt wartet man nur auf die Reaktion des Publikums - und die ist gespalten: Drei Viertel springen auf und toben förmlich vor Begeisterung, das letzte Viertel sitzt auf seinen Plätzen und weiß nicht so richtig, was es von der ganzen Sache halten soll. So mischt sich in den doch recht ausdauernden Applaus eine frühzeitige Abwanderungsbewegung, wie sie in der Stärke sonst kaum auftritt. "Mahler+Chailly= Weltklasse"? An diesem Abend leider nicht.



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