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Internationales Mahler Festival Leipzig: Adagio aus der 10. Sinfonie/1. Sinfonie (London Symphony Orchestra)   22.05.2011   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Das wohl originelleste Programm des Internationalen Mahler Festivals hat das London Symphony Orchestra auf den Pulten liegen: Es schlägt quasi einen Bogen rings um das sinfonische Schaffen Mahlers, allerdings dischronologisch, nämlich beginnend mit dem Adagio aus der 10. Sinfonie, dem letzten von Mahler so gut wie vollendeten Sinfoniesatz, und endend mit der 1. Sinfonie, die Mahler übrigens in Leipzig in nur sechs Wochen schrieb und mit der er in der Nachbetrachtung einen gewaltigen Wurf landete, was seine Zeitgenossen freilich überwiegend anders sahen. Aber das ist eine andere Geschichte ...
Besagtes Adagio sollte nicht in der Mitte der Sinfonie stehen, wie das bei den traditionell orientierten Sinfonikern im Viersatzschema noch üblich gewesen war (also dort an Position 2 oder 3), sondern am Anfang eines Fünfsätzers. Die betörende und von den Londonern unter Valery Gergiev sehr breit ausgewalzte Bratschenfläche im Intro stellt dabei eine eigentümliche große Schwester der Violinenflageoletts aus dem Intro der Ersten dar, und das Stichwort "Flächen" ist ein gutes, denn in der hinterlassenen Form kommt dieser Gestaltungsform eine wichtige Funktion in den reichlich 20 Minuten Spielzeit zu, während beispielsweise das Schlagwerk noch fehlt, weil Mahler es noch nicht ausgearbeitet hatte. Von der Harmonik her wies er hier teils weit in die Zukunft - manches Element sollte erst 60 Jahre später im von Black Sabbath erfundenen Doom Metal wieder fröhliche Urständ feiern. Gergiev hebt mit kleinen Gesten die Celli förmlich in ihren Zupfgroovepart, das Holz schwankt zwischen Frechheit und Eleganz, und die Reibungspunkte werden in den Soli der jeweiligen Ersten an Cello und Violine vor dem verzerrten Horn-Background deutlich. Wenn er das Tempo mal in die Nähe des Stillstandes herunternimmt, erzeugt Gergiev starke Spannung, die mit der gellenden Trompetendissonanz später, ähem, brutalstmöglich aufgelöst wird. Danach ist es noch ein langer Weg zum Frieden, aber den nutzt das Orchester für wunderbar ätherisch-entrückte Klänge hin zu einem völlig transzendenten Ende, das die Energie des Publikums offenbar derart lähmt, daß der Applaus nach dieser Meisterleistung relativ schnell ermüdet. Apropos Publikum: Der Running Gag, daß in jeder ruhigen Passage jemand strategisch ungünstig hustet oder niest, trifft auf dieses Adagio voll und ganz zu, von einer Passage abgesehen. Aber in der gibt die Lichtanlage einen lauten Knackser von sich und torpediert auch damit die Spannung erfolgreich ...
Die Ätherstrategie nimmt Gergiev nach der Pause wieder auf, und das Publikum staunt Bauklötze, denn so hat man die Erste bisher selten bis nie gehört. Das Intro gelingt trotz hohen Entrückungsfaktors ausdrucksstark, es erklingt förmlich kuschelweich, aber in einem erstaunlich hohen Tempo. Und noch erstaunlicher: Dieses relativ hohe Tempo raubt dem Ganzen nicht die Eleganz, eher im Gegenteil: Alles bekommt eine wunderbare Transparenz, und man entdeckt plötzlich Instrumentengruppen, deren Beiträge ansonsten regelmäßig vom Orchesterrest zugedeckt werden. Schon 2009 hatte dieses Orchester, damals unter Sir John Eliot Gardiner, einem eigentlich harmlos anmutenden Beethoven-Programm, vor allem dem 5. Klavierkonzert, diese unbeschreibliche Transparenz implantiert, und an diesem Abend gelingt das noch größere Kunststück, dem Publikum quasi ein akustisches Mikroskop zu bieten und damit mancherlei Klangentdeckung zu ermöglichen. Da wird Mahlers Kuckuck zum Rennkuckuck, die fast metallische Härte der Harfe glitzert, und mit einer derart transzendenten Leuchtkraft hat man den großen Ausbruch im ersten Satz vermutlich noch nie gehört.
Im zweiten Satz senkt Gergiev das Tempo leicht und schärft dafür den Groove, was freilich ähnlich interessant ist wie die spätere Zeichnung der Hauptthemabeschleunigung, die an der Grenze zur Überzeichnung steht, aber im richtigen Moment zurückgenommen wird. Das butterweiche Horn am Eingang ins und am Ausgang aus dem Trio verdient eine spezielle Würdigung, das Trio selbst bleibt scheinbar gemütlich, aber trotzdem doppelbödig, und der furiose Satzschluß funkelt wieder in nie zuvor gesehenen, äh, gehörten Farben.
Das aber ist alles noch nichts gegen das Adagio, in dessen Intro Mahler bekanntlich "Bruder Jakob" kanonisch verarbeitet hat. Im 1906 bei Universal Edition herausgegebenen Notenmaterial steht "Solo" über der Kontrabaßpassage, die den ersten Kanondurchgang bestreitet. Gergiev dagegen läßt alle acht Kontrabassisten des Orchesters spielen - und es klingt wie einer! Das aber ist nur der Auftakt eines Feuerwerks von atmosphärischen Herrlichkeiten, die zu beschreiben Worte hier versagen, was beim Rezensenten bekanntlich nicht oft vorkommt.
Also gleich weiter in den Finalsatz, der bekanntlich recht lärmig beginnt. Wundert es da noch jemanden, daß Gergiev auch diesen Ausbruch mit größtmöglicher Transparenz ausstattet? Dabei ist der Energietransport auf unverändert hohem Niveau - aber Gergiev benutzt eben sozusagen eher eine Laserwaffe als einen Panzer. Die Spannung vor dem nächsten Ausbruck zerfetzt förmlich die Nerven, und hätten da Holz und Horn im letzten großen ruhigen Part mal kurz ein paar Wackler eingebaut, man müßte Angst haben vor den Menschen/Androiden oder wem auch immer, der da spielt. Und daß die Grundstrategie im Schlußausbruch nicht verändert, sondern untermalt werden würde, sollte an dieser Stelle niemanden überraschen. Das Publikum im ausverkauften Gewandhaus springt sofort nach dem Schlußton auf und applaudiert mit einer Frenetizität, die der Rezensent lange nicht an dieser Stelle erlebt hat, und hätte der Konzertmeister nicht nach dem fünften Vorhang den Abend für beendet erklärt, indem er die Bühne verläßt, die Feierstunde hätte noch ein gutes Stück länger gedauert. Weltklasse? Mehr als das - eine förmlich übermenschliche, über die Welt hinausweisende Aufführung dieser eigentlich noch recht erdverbundenen Sinfonie.



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