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London Symphony Orchestra   15.02.2009   Leipzig, Gewandhaus
von rls

Man kennt das aus dem Fußball: Eine Ansammlung von elf großartigen Einzelspielern bildet noch lange nicht automatisch eine schlagkräftige Mannschaft. Auch in der Musik kann man solche Phänomene beobachten - allerdings tritt hier das Gegenteil weit häufiger ein als im Fußball. Eines dieser gegenteiligen Beispiele ist das London Symphony Orchestra, fast komplett aus Musikern zusammengesetzt, die auch im Einzel- bzw. Kammerkontext Weltruf haben, und trotzdem gleichzeitig ein wunderbares homogenes Ganzes bildend.
Die Wahrheit liegt bei Orchestern nicht auf dem Platz, sondern auf der Bühne, und so tourt das Orchester justament durch Europa und macht einen Abend im ausverkauften Gewandhaus Station. Sir John Eliot Gardiner realisiert mit dem Orchester gerade einen Beethoven-Zyklus, und so gehört LvB auch das komplette Programm dieses Abends. Selbiges liest sich zunächst harmlos, aber der Wind dreht sich schnell, schon in der Ouvertüre zu "König Stephan", eher ein Gelegenheitswerk und sicherlich keines der absoluten Meisterstücke Beethovens. Aber was JEG mit seinem Orchester selbst dort noch herausholt, verdient allergrößte Anerkennung und verdeutlicht die extrem hohe Spielkultur dieses Orchesters. Beginnen die Trompeten noch mit schneidender Schärfe, so zeigt sich bald eine Lockerheit, eine fast kammermusikalisch wirkende Eleganz, die dazu führt, daß eine fast überirdisch anmutende Klarheit erreicht werden kann. Die schönen Echo-Dialoge zwischen Horn und Trompete müssen noch gesondert hervorgehoben werden, und selbst die Tatsache, daß die Trompeten zum Schluß ein wenig zu viel Power in die Waagschale werfen, kann den Einstieg in das Konzert nicht entscheidend trüben.
Was danach im 3. Klavierkonzert c-Moll passiert, kann nur noch mit dem Begriff "Weltklasse" zusammengefaßt werden. Zunächst fällt auf, daß das Klavier während der Stephansouvertüre noch nicht auf der Bühne steht, also eine zusätzliche Umbaupause eingelegt wird, welche die erwartungsfrohe Stimmung im Saal aber nicht trüben kann; die auf deutschen Bühnen sonst selten gesehene Anordnung mit dem Pauker rechts hinten und den Kontrabässen an der Stelle, wo sonst der Pauker sitzt, hat man bereits in der Ouvertüre bemerkt und sich einen Akustiker an die Seite gewünscht, der über die schallwellenausbreitungstechnischen Vor- und Nachteile dieser Anordnung dozieren könnte. Genug der Theorie, rein ins Geschehen - und man stellt verblüfft fest: JEG schlägt ein durchaus nicht langsames Tempo an und schafft es trotzdem, eine entspannte Ruhe zu transportieren - und da ist sie wieder, diese überirdische Klarheit. Dieser Linie paßt sich Maria Joćo Pires am Klavier nur zu gerne an, spielt selbst die schnellsten Läufe (und derer gibt es eine ganze Menge im Werk) mit perlender Leichtigkeit, locker und unaufgeregt. Auch die Lautstärkebalance mit dem Orchester läßt nichts zu wünschen übrig (man staunt immer wieder, wie leise ein richtig gutes Orchester auch im Tutti spielen kann), und die immense Spannung in der Kadenz des 1. Satzes kann man fast mit den Händen greifen. Spielt Pires gerade nicht, sitzt sie entweder regungslos da, oder sie hält sich am Klavierrahmen fest, nimmt förmlich die durch den Orchesterklang induzierten Vibrationen in sich auf und setzt sie in Spielspannung um. Da kann das Orchester nicht nachstehen, legt eine abgründige Tiefe in den baßdominierten ersten Orchesterpart im zweiten Satz, einem ausladenden Largo, und breitet mit Flöte und Fagott Teppiche für das Klavier aus. Fast attacca folgt das abschließende Rondo: Allegro, aber wieder bleiben alle Beteiligten auch in Höchstgeschwindigkeit so souverän, wie man nur souverän sein kann - da fliegen einem selbst die Oktavbocksprünge nur so um die Ohren wie Elben aus Tolkiens Welt, wenn die Kadenz mit einem energischen Weckruf im Raum des Gewandhauses verhallt. Tosender Applaus schallt Orchester und Solistin entgegen, die sich mit einer Zugabe aus Scarlattis Feder bedankt und auch hier wieder Hochspannung (wenngleich keine Höchstspannung) aufbaut.
Nach der Pause steht die 7. Sinfonie auf dem Programm, ein eingängig-wildes Paradestück, und die nächste Erkenntnis ist nicht fern: JEG und das Orchester schrauben die Lautstärke auf das gefühlte Vierfache des Klavierkonzertes - und die überirdische Klarheit ist trotzdem noch da, obwohl JEG eine zweifellos breakbetonte Interpretation bevorzugt. Zwar braucht das Holz ein paar Takte Eingroovzeit, bis die gewohnte Leichtigkeit wieder zum Tragen kommt, aber das soll ein Ausnahmeproblemfall bleiben. Der Übergang vom Poco sostenuto ins Vivace gelingt tatsächlich mit dem angestrebten Beinahe-Stillstand des Klanges, eine knochentrockene Pauke treibt das Vivace von unten her an, und dieses läßt an Lebendigkeit nichts zu wünschen übrig. Attacca geht es ins Allegretto, dessen Leichtigkeit JEG bedarfsweise bis kurz vor die Schwerelosigkeit zu treiben imstande ist. Wie das Orchester stufenlos zwischen leiser Melancholie und Düsterpower changiert, gehört in ein Dirigentenlehrbuch, ebenso das Presto an dritter Satzposition, dessen Tuttieinwürfe in der Introduktion wie Messerwürfe sitzen. Alle bleiben locker, selbst als der attacca angeschlossene vierte Satz noch einmal einen Energieschub erfordert, der eine Art kathartischer Wirkung entfaltet. In klassischer Manier setzt JEG den Volumenhöhepunkt auch tatsächlich ans Ende der Sinfonie, anstatt ihn bereits vorher anzukratzen und danach keine Steigerung mehr im Ärmel zu haben, wie man es heute häufig hört. Bravorufe und enthusiastischer Applaus samt Standing Ovations belohnen JEG und seine Londoner nach einem Konzert, das demonstriert, was man mit einem Orchester heute alles erreichen kann, wenn man die Mühen der Ebene verlassen hat.



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