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Die Meistersinger von Nürnberg   11.12.2010   Leipzig, Oper
von rls

Fünfzig Jahre ist es her, seit das an der Stelle des kriegszerstörten Neuen Theaters erbaute neue Leipziger Opernhaus eröffnet wurde. "Die Meistersinger von Nürnberg" bildete damals in einer Inszenierung von Joachim Herz das Eröffnungsstück - eine ungewöhnliche wie passende Wahl. Das betrifft nicht mal die eher zufällige zeitliche Koexistenz mit dem Bitterfelder Weg und dessen Motto "Greif zur Feder, Kumpel!", das die dichtenden und singenden Schuster, Bäcker und Schneider quasi vorwegnehmen, wobei sich Wagner im Grab herumgedreht hätte, wenn jemand ernsthaft eine solche Verbindungslinie zöge. Und daß die Schlußpassagen mit dem Loblied auf die deutschen Meister und die deutsche Kunst 1960 durchaus auch ganz anders verstanden werden konnten, als die sozialistische Deutungshoheit das gern gehabt hätte, dürfte auch unbestritten sein. Wagner hat allerdings seine Oper quasi in seine Zeit gestellt, also nicht als Historiendrama aufgefaßt (das unterscheidet das Werk von vielen anderen seiner Opern), und das gibt natürlich jeder neuen Epoche die Gelegenheit, sich mit ihren aktuellen Problemen dort wiederzufinden. Diese ständige Neudeutung (die dem heutigen Publikum auch erspart, sich mit der nationalsozialistischen Deutung des Werkes und deren Folgen auseinandersetzen zu müssen, also ohne Aufwand politically correct sein zu können) dürfte auch einer der Gründe gewesen sein, wieso die Kreativfraktion der Leipziger Oper darauf verzichtet hat, Herz' Inszenierung noch einmal auf die Bühne zu bringen, wenngleich es natürlich gerade für Jüngere reizvoll gewesen wäre, einmal live zu erleben, was man weiland aus biologischen Gründen verpaßt hat (und solche Revivalprojekte sind ja oft recht erfolgreich, wie etwa Iron Maiden mit ihren Rekonstruktionen ihrer eigenen Achtziger-Tourneen oder The Musical Box mit ihrer Wiederaufführung alter Genesis-Touren bewiesen haben); daß man damit gleich noch einen würdigen Grabstein für den kurz nach der Premiere (freilich nicht deswegen :-)) verstorbenen Joachim Herz hätte setzen können, war zum Zeitpunkt der Ideenfindung natürlich noch nicht abzusehen. Die Wahl fiel schließlich aber doch auf eine Neuinszenierung durch Jochen Biganzoli, und der Rezensent sah die vierte von sieben Aufführungen, allerdings ausgerechnet die mit einer abweichenden Besetzung in den zentralen Rollen Eva Pogner und Walther von Stolzing, so daß also, wer sich zu den weiteren drei Aufführungen auf den Weg macht, andere Personen auf der Bühne erleben wird.
Die Prognose einer exzellenten Orchesterleistung auch in den noch ausstehenden Aufführungen aber dürfte keine allzu gewagte sein - was das Gewandhausorchester zu leisten imstande ist, weiß man und bekommt es auch an diesem Abend wieder bestätigt. Exempel gefällig? Schon die Ouvertüre nimmt Axel Kober mit seinen Mannen recht fluffig und locker, und wie er selbst die Bombastparts immer noch transparent gestaltet, nötigt Respekt ab, der dann im Vorspiel zum 3. Akt noch größer wird: Was für streichelnde Streicher, was für eine Idealkombination der Hörner zwischen butterweich und dramatisch! Noch Fragen? Na gut, die nach dem alten Wagner-Problem vielleicht, also die Quadratur des Kreises, auch in den dramatischen Höhepunkten die Sänger akustisch nicht zuzudecken. Da hält der Komponist auch bei den "Meistersingern" manch Falle geöffnet, und nicht jede kann umgangen werden - aber vor diesem Problem steht jedes andere Orchester der Welt bei Wagner auch, und da gibt's bei weitem größere Problemhäufungen als hier.
Apropos Sänger: Keiner der Beteiligten unterschreitet ein gutes Niveau, soviel vorab (auch wenn Stolzings aka Jeffrey Dowds Textvariation in der 2. Strophe des Testliedes möglichst nicht häufiger passieren sollte), aber es gibt da drei, die sehr hoch hängende Trauben zu pflücken imstande sind. Zum einen beobachtet man baß erstaunt die Entwicklung von Dan Karlström. Bisher roch der kleine Schwede in den letzten Leipziger Wagner-Opern immer ein bißchen nach Fehlbesetzung, aber was er an diesem Abend als David (der Lehrling von Hans Sachs) leistet, das überzeugt über allerweiteste Strecken, und vor allem hört man ihn endlich auch mal richtig. Dann wäre da Dietrich Henschel als Sixtus Beckmesser - den in dieser Rolle geforderten, bewußt gegen jeden sängerischen Strich gebürsteten schrägen Gesang so hinzubekommen muß man erstmal schaffen (ob der Vortrag Beckmessers zum Preissingen Douglas Adams als Vorbild für die Dichtkunst von Prostetnik Vogon Jeltz, dem drittschlechtesten Dichter der per Anhalter bereisbaren Galaxis, diente, muß offenbleiben, aber auszuschließen ist es keineswegs). Und was Wolfgang Brendel als Hans Sachs gesanglich abliefert, ist Weltklasse - da stimmen sowohl Power als auch Emotion, von der souveränen Bühnenpräsenz in allen Lagen ganz zu schweigen. Völlig zu Recht darf er zum Schluß dann auch den lautesten Jubel des Publikums einstecken.
Nun bliebe noch zu klären, was Biganzoli uns für eine Interpretation beschert. Da hilft ein Blick ins Programmheft deutlich weiter, um die Neutralität der ersten beiden Akte zu verstehen: Die erwähnte Strategie der permanenten Neudeutung greift hier, und Biganzoli konzentriert sich auf eine partiell nicht näher bestimmbare, partiell aber auch exakt bezifferbare Neuzeit. Daß die Meisterversammlung im ersten Akt an eine Aufsichtsratssitzung einer beliebigen Aktiengesellschaft unserer Tage erinnert, ist also gleichermaßen Zufall wie kein Zufall, so paradox das auch klingen mag. Dazu kommt allerdings eine Strategie der Relativierung, wie wir heute ja grundsätzlich dazu neigen, alles Geschichtliche irgendwie zu relativieren (was dann auch unangenehm duftende Blüten treibt wie die der Rechtsaußenfront, die von den Nationalsozialisten vernichteten Juden gegen die der Großen Säuberung in der Sowjetunion zum Opfer gefallenen Bürgerlichen, Intellektuellen, Militärs etc. aufzurechnen). Ergo dürfte es kein Zufall sein, daß die Bürgerversammlung von Nürnberg (von Nürnberg!) in der Eröffnungsszene weiblicherseits zwar kein Schwarz-Weiß-Rot, aber zumindest Grau-Weiß-Rot trägt - allerdings war wohl kein Orgelportativ aufzutreiben, weshalb ein Harmonium herhalten muß (zum Glück zu gemischten Chorklängen, ansonsten hätte man sich wegen des klassischen Mauersberger-Ausspruchs "Harmonium und Männerchor - so stell' ich mir die Hölle vor" akut das Lachen verkneifen müssen). Biganzoli stellt also grundsätzlich alles und jeden in Frage, plant für den einen Meister, der im 1. Akt wegen Krankheit fehlt, erst gar keinen Platz an der Aufsichtsratstafel ein und besticht auch sonst durch eine Detailfülle, die sich auf der anfangs kargen und grün gekachelten Bühne noch gar nicht erwarten läßt, ohne aber in eine Materialschlacht auszuarten. Das Problem ist nur: Man erkennt nicht so richtig, wohin er den Zuschauer bzw. -hörer nun führen will, zumindest in den ersten beiden Akten nicht; jedwede exaktere Deutung flutscht wie Seife durch die Hände. Das muß nichts Schlechtes sein, aber damit sind wir wieder bei der erwähnten Generalrelativierung. Die bricht sich dann im dritten Akt mit Macht Bahn, zunächst in der Idee, bestimmte Handlungselemente auf einer Traumebene stattfinden zu lassen - das paßt durchaus, zumal es einen Querverweis zu "Lohengrin" zuläßt, bei dem der rettende Ritter ja auch zunächst nur ein Traumbild Elsas darstellt. Aber danach bekommt der Affe Zucker, Biganzoli erinnert sich plötzlich, daß wir ja eine Komödie vor uns haben, und so gerät der Hauptteil des dritten Aktes plötzlich zum Klamaukfestival, wie man es in ähnlicher Form nicht selten in den Operninszenierungen der Leipziger Musikhochschule hören und sehen kann. Sachs' Morgenmantel bei der großen Feier (natürlich feiert man in Nürnberg das 50jährige Bestehen des neuen Leipziger Opernhauses) fällt da noch nicht drunter - er wird aus der Traumszene quasi in die Feier hineinkatapultiert, und sein Gefühl, er sei fehl am Platze, ergibt im Gesamtkontext durchaus Sinn. Den Aufzug zur Feier freilich einem für das Leipzig der DDR-Jahrzehnte typischen Turn- und Sportfest nachzuempfinden und Teile des Chores in FDJ-Blusen anrücken und alte Losungen skandieren zu lassen steht in einem paradoxen Widerspruch zur Jetztzeitigkeit bzw. Zeitlosigkeit des Restes der Inszenierung, und der Zaunpfahl, daß Sachs bei seiner Umkleidung ein Hakenkreuztuch um den Leib gegürtet bekommt (wir sind, wohlgemerkt, wahlweise in Leipzig oder in Nürnberg), fällt auch relativ geräuschvoll um. Zwar übertrifft der Amüsementfaktor des dritten Aktes den der ersten beiden deutlich (bei der Massenschlägerei am Ende des zweiten Aktes ist das Auge ja noch eher analysierend am Werke), aber gleichzeitig setzt er der Beliebigkeit, der Undeutbarkeit auch die Krone auf. Nicht mal das Programmheft hilft da entscheidend weiter, obwohl sich nach der Lektüre des Interviews mit der Kreativfraktion doch mancher Einfall in einem klareren Licht zeigt. Dem großen Ganzen hilft das nicht - es bleibt seltsam indifferent. Wenn das Biganzolis Hauptziel war, dann hat er es erreicht. Ansonsten bleibt diese "Meistersinger"-Version hauptsächlich wegen der exzellenten musikalischen Leistungen im Gedächtnis, was ja immerhin auch schon mal etwas ist. Die letzten Termine und alle weiteren Infos auf www.oper-leipzig.de



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