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Faust (Margarethe)   07.03.2009   Chemnitz, Oper
von rls

Das Jahr 2009 wirft ja mit Musikerjubiläen verschwenderisch um sich - Charles Gounod hat von den Lebensdaten (1818-1893) her keines, wohl aber sein neben der vatikanischen Hymne und der "Ave Maria"-Bach-"Gemeinschaftsproduktion" bekanntestes Werk, nämlich die Oper "Faust" oder "Margarethe" (beide Titel kursieren). Die wurde anno 1859 uraufgeführt und an der Pariser Opéra seither immerhin rund 3000mal gespielt, was bei 150 Jahren also einen Schnitt von 20 Aufführungen pro Jahr ergibt (in ein und demselben Opernhaus, wohlgemerkt!) - ein Ergebnis, das kaum ein anderes Werk derselben Ausdehnung übertreffen können bzw. übertroffen haben wird. Das 150jährige Jubiläum bildete nun einen guten Anlaß, die Oper auch in Chemnitz mal wieder auf den Spielplan zu heben, und zwar in einer Inszenierung von Jakob Peters-Messer. Dieser Mann nun hat im Programmheft einen "Einblick in die Werkstatt" mit Auszügen aus den "Notizen zu Konzeption und Ablauf der Inszenierung" veröffentlicht, und der Rezensent könnte das zwar alles auch noch mit anderen Worten, aber zweifellos nicht besser ausdrücken. Deshalb sei hier etwas getan, was der Rezensent sonst nicht tut - er zitiert diesen treffenden Beitrag (den er übrigens erst nach der Inszenierung zu Hause las, da er das Programmheft vorher nicht durchgeschaut hatte) aus erster Hand kurzerhand komplett:
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1. Bild
Plafond mit der Rotunde aus Glühlampen, ein "kosmischer Heiligenschein" //
Faust als alter Mann in langer Unterwäsche mit Schal und Heizdecke, nicht so sehr Wissenschaftler, eher ein "Jedermann", der sich noch ein bisschen Leben wünscht //
Mephistos Auftritt ganz unspektakulär, er sitzt in Fausts Rücken, ist von Anfang an da als sein Alter Ego, die Bühne dreht sich um 180 Grad, erst ist Faust vorne, dann unmerklich Mephisto an gleicher Stelle, Mephisto als Abspaltung Fausts, als Teil seines Wesens: das Böse ist in uns ...

2. Bild
Die Rotunde hebt sich, der Verkaufstresen, dahinter Regale mit Waren //
der "Pudel" aus Goethes "Faust" wird zum Firmen-Logo, ein Einkaufszentrum, die Welt des Alltäglichen als Kontrast zum Elfenbeinturm des Wissenschaftlers //
der Chor-Auftritt wie ein Musical-Opening, dann Schlangen vor den Kassen mit Einkaufstüten und Supermarktwagen //
Valentin und Freunde mit Seesäcken, sie werden zum Bundeswehreinsatz eingezogen, Valentins Cavatine: das Kaufhaus wird zum Schlachtfeld, ein Spaß Mephistos: er erschießt alle //
Mephistos Song: das Logo fährt ab und leuchtet hell, alle auf den Knien, das "goldene Kalb" anbetend, Mephisto verteilt Geld, Triumph der Kreditkarte //
das Weinwunder: Mephisto bohrt mit dem Akkuschrauber ein Loch in den Tresen, so wie Goethe es beschreibt //
der Schwerterchoral: das Kreuz, vor dem Mephisto zurückweicht, ist Valentin als gekreuzigter Jesus, religiöse Massenpsychose //
der Walzer dagegen als Konsumrausch, angeführt von Mephisto, der Tresen dreht sich, die Drehbühne als Karussell, die Kassen explodieren, Chaos ...

Die Ballade vom "König von Thule" folgt direkt im Anschluss an den Walzer als direkte Reaktion Margarethes auf die Begegnung mit Faust //
die Lichter sind aus: Geschäftsschluss, Chaos nach dem Massenansturm, es wird aufgeräumt //
Margarethe als einfache Verkäuferin, sie arbeitet im Einkaufszentrum, Marthe und Siebel sind ihre Arbeitskollegen, Siebels Eifersucht auf Faust, während Margarethe von der Liebe träumt ...

3. Bild
Margarethes Zimmer, in der Rotunde riesig vergrößert ein rosa Schlafzimmer aus dem Katalog, Margarethes Traumwelt, man sollte die Preisschilder noch erkennen //
vorne ihr altes, braunes Sofa mit Kuscheltieren, Margarethes Wirklichkeit, ihre arme, kleine Welt, die noch eine Mädchenwelt ist //
Siebel kommt mit seinen Rosen, das Wasser der Lourdes-Madonna verhindert, dass der Strauß verwelkt, wie Mephisto es prophezeit hatte //
Fausts Arie: ein Moment des Wiedererlebens reiner Kindlichkeit, Margarethes Plüschtier-Sofa wird ihm zum Altar //
Mephisto lässt eine rote Einkaufstüte mit den Juwelen einschweben und plaziert sie vorne, Margarethe kommt nach Hause und lässt sich nur zu leicht verführen, sie schwebt mit dem Sofa durch den Raum //
das Quartett der vier Temperamente wird über vier Ecken aufgebaut, den formalen Aspekt betonen, magischer Moment im Ensemble, wenn alle vier zusammenkommen, wie von Zauberhand zusammengeführt, die Tüte mit dem Schmuck entschwindet wieder nach oben //
Mephistos Solo: hier zeigt sich sein wahres Wesen, die zerstörerische, zersetzende Kraft des Zynischen, er weidet einen der Teddys aus, Gedärm quillt heraus //
im Duett: Mephisto schiebt fünf überdimensionale Nachttischlampen herein, sie leuchten verheißungsvoll auf, Romantik und Ironie in der Schwebe //
Finale: der Prospekt fährt hoch, Margarethe und Faust im Strahlenkranz vor dem Traumschlafzimmer, eine romantische Luftblase, die bald zerplatzt ...

- PAUSE -

4. Bild
Zeitsprung: Monate sind inzwischen vergangen, Margarethe wartet auf Faust, in der Rotunde ist jetzt der Embryo sichtbar, Margarethe sitzt auf dem Stuhl in der Mitte wie Faust am Anfang, sie ist schwanger //
Frauen auf weißen Plastikstühlen im Kreis, sie haben Kinderpuppen auf den Knien, provozieren Margarethe, die schon erste Spuren der Verstörung zeigt ...

Die Szenen Soldatenchor und Valentins Tod werden zusammengezogen //
Die Soldaten kehren zurück, Valentin kommt als erster, sieht Margarethes Zustand und schlägt sie, seine Freunde halten ihn zurück //
Soldatenchor als Zeremonie, sechs Militärsärge werden von den Frauen hereingetragen, Szene mit Kriegerwitwen, ein Verantwortlicher hält eine Rede, Valentin bleibt teilnahmslos //
Mephistos Serenade als obszöne Publikumsnummer mit Mikrofon, er "interviewt" Valentin auf zynische Weise, daraus entsteht die Duell-Situation, Faust wird zum Mörder Valentins und damit weiter in den Abgrund gezogen //
im Tode noch verflucht Valentin seine Schwester, die ihn "entehrt" hat ...

5. Bild
Diese Szene direkt vor der Walpurgisnacht, wie bei Goethe //
Requiem in der Kirche, acht schwarze Särge, auf einem liegt der aufgebahrte Valentin, Margarethe versucht zu beten, Mephisto mit Kapuze als falscher Mönch //
Margarethes Albtraum: Mephisto lässt Valentin "auferstehen" und agieren als ihr schlechtes Gewissen, Valentin "spricht" durch den Mund und mit den Worten Mephistos und verflucht sie noch einmal //
Margarethe halluziniert die Geburt ihres Kindes, sie betet zu Valentin, der ihr als Gekreuzigter erscheint, in ihrem Kopf vermischen sich religiöse Motive und Wahnvorstellungen ...

6. Bild
Die Walpurgisnacht als komplementäres Bild zum Kaufhaus, der Plafond hebt sich wie im 2. Bild, dahinter die Müllkippe, starkes Rücklicht //
die Kehrseite des Konsums und das, was davon übrig bleibt, der Chor schleift den Zivilisationsdreck nach vorne, wühlt darin //
die Müllmänner mit Totenmasken werden zu Hexen //
Mephisto beschwört die "Göttinnen der Antike", die Faust verführen sollen, auch sie kommen aus einer Totenwelt //
Fausts Vision: ihm erscheint Margarethe als Häftling, im Wahn durchlebt sie noch einmal die Tötung ihres Kindes ...
Die Frauen gehen ab, sie trauern um die toten Kinder //
Margarethe findet im Müll Erinnerungsstücke ihres Lebens: Fotos, die Teddys von ihrem Sofa, die Bluse, die sie bei der ersten Begegnung mit Faust getragen hat, Baby-Kleidung //
sie ist gänzlich aufgegangen in ihrer eigenen Welt, zu der niemand - auch Faust nicht mehr - Zugang hat //
Faust wird sich seiner Schuld bewusst, kann mit ihr aber nicht mehr kommunizieren //
Margarethe sieht in ihm den Teufel, Mephisto und Faust werden für sie zu einer Figur //
"gerichtet" - "gerettet": Faust und Mephisto als Zwillings-Embryo am Boden, während Margarethe sich erhebt, sie steht auf einem der Särge, während sich die leuchtende Rotunde ganz auf sie senkt //
der Chor singt den Osterchoral ...
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Soweit das Grundgerüst. Peters-Messer und Bühnen-/Kostümbildner Markus Meyer füllen dieses natürlich noch mit Fleisch, das mal Fragen aufwirft, mal welche beantwortet und noch diverse andere Anspielungen enthält. Problem einer Versetzung des Stoffes in die heutige Welt ist ja, daß einige Elemente der "klassischen" Handlung auch heute noch von zentraler Bedeutung sind, andere aber deutlich an Kraft oder auch Konfliktstoff verloren haben. Die Entehrungsszenerie mit Valentin und der unehelich schwangeren Margarethe etwa dürfte in manchen ländlichen Gebieten der USA heute noch praktischen Themenwert haben, im christlichen Abendland aber nur noch bedingt - dafür kennt man ähnliche Ehrbegriffe aus dem Islam, den Peters-Messer außer in der Einkaufsszenerie, in der auch eine Frau mit Kopftuch zu sehen ist, allerdings außen vor läßt. Dagegen kann die Geißelung der Plutokratie, die Peters-Messer gleich mit doppeltem bis dreifachem Boden vornimmt, gar nicht intensiv genug ausfallen. Interessanterweise zeichnet Peters-Messer Mephisto auch nicht als grundsätzlich böse, sondern eher als gemein - auch das paßt in die heutige Zeit, in der man nicht mehr alles pauschal in Schwarz und Weiß gliedern kann (auch wenn das viele Engstirnige immer noch in den verschiedensten Zusammenhängen tun, etwa "Achsen des Bösen" konstruieren). Andere Dinge hingegen sind zeitlos: Verliebte Männer benehmen sich auch heute noch bisweilen wie Witzfiguren, und eine Frau beim Anlegen von Schmuck oder neuen Kleidern ist auch heute noch für alles andere blind und taub. Tote Babys geistern heute in erschreckenden Zahlen durch die Medien, waren aber in prämedialen Zeiten sicher nicht weniger omnipräsent, und die paradoxe Rolle des Soldaten zwischen Sieg und Tod, oft mit beidem gleichzeitig konfrontiert, hat sich auch im Zeitalter des postulierten neuen Verständnisses des Soldaten als Friedensstifter der "zivilisierten Welt" in praktischer Hinsicht eigentlich nicht geändert. Daß Faust in seinem kurzen gelehrten Auftritt zu Beginn ein wenig an Martin Luther King erinnert, dürfte nicht beabsichtigt gewesen sein - aber die Verlagerung der Geschichte auf ganz normale Personen von nebenan ist eine sehr starke Idee; es kann halt jeden von uns treffen. Die Liebe übrigens auch, die von Margarethe noch im letzten Bild inmitten der stärksten Verzweiflung als Rettungsmittel gegen die dämonischen Kräfte angesehen wird - zur Religion hat sie dort noch nicht wieder gefunden (den urkatholischen Erlösungsschluß Gounods, den es allerdings auch schon beim Protestanten Goethe gab, hat die Inszenierungsfraktion nicht angetastet).
Und dann wäre da noch eins: Peters-Messer oder irgend jemand anders aus seinem Kreativteam muß einen Hang zur Rockmusik oder zum Heavy Metal haben. Eine derart große Anzahl von Anspielungen in dieser Richtung wäre sonst kaum zu erklären, und immer wieder springen einem bestimmte Albentitel förmlich ins Gesicht - nicht "Gretchen Goes To Nebraska" von King's X (da hätte man wieder eine ganz eigene Geschichte draus machen können), aber etwa Cataracts "With Triumph Comes Loss" in der bewußten Zusammenlegung von Soldatenchor und Valentins Tod, Kats "Die Rosen der Liebe blühen am besten auf Gräbern" (der Originaltitel ist polnisch, aber den erspare ich mir mal abzutippen) quasi im ganzen vierten und fünften Bild, selbst Cannibal Corpse mit "Butchered At Birth" kommen im 5. Bild vor. Kein Zufall dürfte sein, daß die Hexen mit ihren Besenstielen wie traditionelle Rockgitarrenhelden posen und daß Mephisto und Faust in der gleichen Szene mit der berühmt-berüchtigten Pommesgabel-Fingersymbolik (von Ronnie James Dio im Metal eingeführt, obwohl es sich ursprünglich um ein Zeichen der Abwehr des "bösen Blicks" handelte) arbeiten. Schließlich bleibt Mephisto selbst, der einen so sehr an Kärtsy Hatakka von der finnischen Band Waltari erinnert (die mit "Yeah! Yeah! Die! Die! Death Metal Symphony in deep C" selbst ein Bühnenwerk geschaffen haben, das sich mit der Verlorenheit in der heutigen technischen Welt befaßt und grundmenschliche Empfindungen der positiven Sorte dagegenstellt), daß auch das wohl kein Zufall ist, zumal Kouta Räsänen auch noch ein Landsmann Hatakkas und garantiert mit dessen Schaffen irgendwie in Berührung gekommen ist.
Räsänen bekommt übrigens in der Endabrechnung auch den stärksten Applaus aller sieben Solisten - und den hat er sich mit einem starken Gesang und einer handlungstechnischen Detailfülle (köstlich: sein verzweifelter Wegschiebversuch von Margarethes Lourdes-Madonna) auch redlich verdient. Kaum schwächer: Judith Kuhn als Margarethe, der man irgendwie sowohl den unschuldigen Engel als auch die verzweifelte Wahnsinnige abnimmt, während Stanley Jackson ganz leichte Probleme in den geforderten Höhen, z.B. in der Liebeserklärung im 3. Bild, offenbart (er klingt dort zu angestrengt), aber ansonsten einen sehr soliden und auch schauspielerisch gelungenen Faust gibt (man erinnere sich nochmals an die verliebte Witzfigur). Die einzigen Einzelbravi neben Räsänen heimst allerdings Jana Büchner in der Hosenrolle des Siebel ein - auch das zu Recht, und Unterstützung bekommt sie von einem bühnenbildnerischen Paradoxon: Am Übergang von Bild 2 zu 3, also in Siebels verliebter Verzweiflung, wird hinter dem geschlossenen Vorhang der Tresen weggeräumt, und das erzeugt einen unterschwelligen Donner, der perfekt in die emotionale Situation an dieser Stelle paßt. Der Chor entledigt sich seiner mannigfachen Aufgaben in gewohnter Professionalität, und die Robert-Schumann-Philharmonie unter David Marlow, die im Orchestergraben sitzt, macht ihre Sache ebenfalls tadellos, bekommt in der Ouvertüre einen schönen wogenden Charakter hin, läßt einen mit der Harfe den Engel Margarethe singen hören und schafft das Kunststück, in fast den gesamten drei Stunden hörbar zu bleiben und die Sänger trotzdem nicht zuzudecken (das muß man heute ja schon als Sonderlob erwähnen!); lediglich das Schlagzeug stellt, wenn es gleichzeitig mit dem Chor zu erklingen hat, die Sänger etwas zu sehr ins klangliche Abseits. Aber da das der einzige Problemfall bleibt, kommt man nicht umhin, diese Premierenleistung musikalisch als durchaus hochkarätig zu bewerten, wobei sich der Rezensent eines Urteils über die Qualität der französischen Aussprache der Sänger enthält, da er dieser Sprache nicht mächtig ist.
Zwei Dinge zum Schluß: Erstens geht bei jeder vernünftigen Premiere irgendetwas schief, so auch hier. Der Computer, der die deutschen Übertitel einblendet, streikt nämlich gleich nach dem Fernmännerchor im 1. Bild, und es dauert eine ganze Weile, bis er wieder länger als schlaglichtartig funktioniert. Zweitens beinhaltet das Schlußbild noch einen ganz besonders paradoxen Effekt, der nur im Zusammenhang mit der jetztzeitig orientierten Inszenierung gesehen werden kann, wobei nicht mal sicher ist, ob er so geplant war: Die Rotunde schwebt über die gerettete Margarethe herab, die dann zwar im Kreis des erleuchteten Himmels steht, aber gleichzeitig von der Bühnentechnik, also einem gitterartigen Stabgeflecht, umgeben, vom Zuschauerraum aus betrachtet quasi gefangen ist ... Alle weiteren Infos und Termine auf www.theater-chemnitz.de



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